Nach Andreas Tod begann der Boden unter meinen Füßen zu wanken. Ich verlor zunehmend das Gleichgewicht und es war mir, als wolle mir der Boden zuflüstern: "Komm zu mir, komm zu mir!" Ich stürzte mehrfach und einmal so heftig, dass ich als Folge das Bewusstsein verlor.
Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam. Aber ich sah, wie ich fiel und wie sich mein Kopf im Sturz dieser schmalen Metallschiene, in der die Tür der Duschkabine geführt wird, rasant näherte. Ich merkte, wie ich noch instinktiv die Hände zum Abwehen des Aufpralls benutzt habe. Wäre das nicht geschehen, und da bin ich mir sicher, würde ich nun neben Andrea liegen. Dennoch traf diese Metallschiene direkt auf meine Stirn, was mich außer Gefecht setzte. Ich hatte großes Glück, denn ich hatte Hilfe und als ich wieder zu mir kam, lag ich im Bett.
Also begann ich nach etwas zu suchen, dass mir dabei helfen sollte, mein Gleichgewicht zurückzuerlangen und dabei fand ich Tai Chi. Tai Chi Chuan, wie es vollständig heißt, bedeutet vereinfacht "das höchste Ziel der Faust" und ist eine der sogenannten inneren Kampfkünste. Im Gegensatz zu den äußeren Kampfkünsten wie Kung Fu oder Karate geht es hier nicht um schnelle kraftvolle Bewegungen sondern darum, Zugang zur inneren Kraft, dem Chi, zu erlangen und sich von dieser inneren Kraft leiten zu lassen.
Als sich mir die Möglichkeit bot, an einer kostenlosen Schnupperstunde teilzunehmen, habe ich es damit einmal versucht. Der Lehrer zeigte mir eine Bewegungsabfolge, die ich nachzuahmen hatte - und das war weitaus schwieriger als gedacht. Ich musste meine gesamte Konzentration für diese Bewegungen aufbringen, ohne dabei Raum für andere Gedanken zu haben. Es dauerte eine Weile bis ich spürte, dass es genau diese totale Konzentration war, die eine absolut entspannende Wirkung entfaltete. Plötzlich war es wie in der Rede, in der es nur die Worte und mich gab. Nun gab es nur noch die Bewegung und mich. Ich war frei von allem anderen, frei von Trauer und allen anderen Gefühlen. Am Ende der Schnupperstunde war ich so entspannt und gelöst wie schon seit Jahren nicht mehr und ich habe spontan einen Kurs belegt.
Nun fahre ich (fast) jeden Mittwoch nach Gießen und an jedem dieser Termine kommt ein neues Stück Bewegung dazu. Inwischen ist eine Bewegungsabfolge entstanden, die ich nach Möglichkeit jeden Tag so oft es geht durchlaufe. Tai Chi ist ein wesentlicher Teil meiner Selbsttherapie.
Es ist eine Entspannungstechnik, die für jedes Alter geeignet ist. Aber es ist tatsächlich auch eine Kampfkunst. Wenn man sich diese langsamen fließenden Bewegungen anschaut, dann denkt man sich vielleicht "das ist ja lächerlich, damit kann sich kein Mensch verteidigen" - und doch ist es so. Das gelingt, wenn man den Zugang zur inneren Kraft erlangt, wenn man das Chi versteht und es für sich nutzen kann. Dies zu erreichen ist ein langer Weg. Das ist nicht eigentlich mein Ziel. Und doch bin ich gespannt, was sich durch Tai Chi in mir verändern wird.