Kindheit

Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich eine durchaus glückliche Kindheit hatte.

 

Die Entstehung meines Lebens verlief mit gewissen Hinternissen. Denn mein Vater wollte, dass meine Mutter abtreibt. Sie sollte nach Italien gehen, um es dort machen zu lassen. Meine Mutter aber hielt zu mir. Als es an die Geburt gehen sollte, hatte sich meine Nabelschnur um meinen Hals gelegt. Ich weiß nicht, was dann genau passiert ist, aber es stand wohl längere Zeit nicht gut um mich. Schließlich aber bin ich dann doch ins Leben gekommen.

 

Geboren bin ich im tiefsten Schwaben, damals in Schwennigen am Neckar, nun Villingen/Schwenningen. Da die Ärzte meiner Mutter aus gesundheitlichen Gründen rieten, nach Norddeutschland zu ziehen, hat es uns für eine Weile nach Schleswig-Holstein verschlagen und schließlich landeten wir in Hamburg, wo ich dann die - ich glaube - 2. Schulklasse besuchte.

 

Meine Mutter Dora Vallen, geborene Muxfeld, wurde 1921 geboren. Sie hat das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg als Mädchen und Frau erlebt und ihre Schilderungen davon haben mich geprägt.

 

Sie hat mir erzählt von ihren vier Brüdern, die alle an der Ostfront verheizt worden sind. Einer von ihnen hatte einmal zwei Wochen Fronturlaub und kam nachhause. Er weinte die ganze Zeit. Er will nicht zurück, sagte er, weil er nicht sterben wolle. Er blieb und am Tag darauf kamen die Feldjäger und holten ihn. Er starb keine Woche später in Russland.

Sie hat mir erzählt von den jüdischen Familien, die nach und nach abgeholt wurden und verschwanden. Man hatte von den Vernichtungslagern gehört - alle wussten es und keiner sprach darüber. Aber auch andere Menschen verschwanden - Schriftsteller, Sozialdemokraten, Menschen, die nicht schwiegen. Es war eine Zeit des Terrors.

Sie hat mir davon erzählt, wie die Horden der SA durch die Straßen liefen und wahllos auf Menschen einprügelten.

Sie hat mir von ihrer Angst erzählt, dass plötzlich die SS oder die GeStaPo kommen und sie mitnehmen könnte.

Sie hat mir erzählt, wie sie eingezogen wurde und als Flak-Helferin jedes Flugzeugmotorengeräusch zu erkennen lernte, um die Art des Bombers zu identifizieren.

Sie hat mir erzählt wie es war als die Bomben fielen. Sie beschrieb mir dieses sirrende Geräusch, das sie Zeit ihres Lebens verfolgt hat, so dass ich es fast selbst hörte.

Sie erzählte mir über die Zeit nach dem Krieg, als es nichts zu essen gab und man raus musste aufs Feld, um Kartoffeln zu stehlen.

 

All das und noch viel mehr erzählte sie mir und manchmal kam es mir so vor, als sei ich direkt dabeigewesen und immer wenn ich ihren Worten lauschte, dann schwor ich mir, dass sich so etwas NIEMALS wiederholen darf. Und so wurde Ich Antifaschist bevor ich überhaupt wusste, was das war.

Sie erzählte mir all diese Dinge, weil ich sie immer danach gefragt hatte. Ich wollte immer wissen, wie es früher war.

 

Trotz der Nazi-Indoktrination und trotz der Schrecken des Krieges blieb der innere Kern meiner Mutter intakt. Sie lehrte mich, dass alle Menschen gleich sind und dass die Hautfarbe eines Menschen überhaupt keine Rolle spielt und es auch ganz egal ist, wie der Gott heißt, den ein Mensch anbetet.

Wohl mögen uns kulturelle Unterschiede voneinander trennen und es mag so manche Sache geben, die inkompatibel ist und vielleicht auch bleiben muss. Und doch sind im innersten Kern alle Menschen gleich. Wir alle wollen doch nur, dass es uns ein bisschen gutgeht. Wir sorgen uns um unsere Familien und wollen unsere Freunde und Nachbarn schützen. Mehr brauchen wir Menschen nicht.

 

Als Kind wollte meine Mutter Schneiderin werden. Aber sie durfte nicht - das Augenlicht wäre zu schlecht, hieß es. Sie erlernte keinen Beruf, dafür arbeitete sie bereits im jungen Alter von 14 Jahren als Zimmermädchen. Später war es mal dies und mal das, meistens hat sie für andere geputzt. Sie hat sich dieser Arbeit nie geschämt - und wieso denn auch? Es ist anständige Arbeit, die allerdings nicht viel Geld einbringt.

Als ich aufwuchs hatten wir wenig Geld. Es reichte zum Essen und wohl auch, um etwas zurückzulegen. Aber wirklich vermisst hatte ich nie etwas.

 

Als ich etwa drei Jahre alt war ließen meine Eltern sich scheiden. Mein Vater hatte eine andere und jüngere Frau gefunden. Meine Mutter hat das nie richtig überwinden können, sie hatte danach nie wieder einen Partner. Mein Vater musste monatlich 25 Mark Unterhalt bezahlen. Sie hat das Geld nicht angerührt und hat alles zurückgelegt. Sie gab es mir als ich 18 Jahre alt war.

 

"Lern was!", sagte sie immer zu mir. "Lern was, damit du später nicht so niedere Arbeiten machen musst wie ich!". Und ich beherzigte ihren Rat. Als es dann zum Ende der Grundschulzeit darum ging, die weitergehende Schule zu bestimmen, kam der Gymnasialzweig für mich nicht in Frage. Die Lehrer meinten, meine Mutter sei ja geschieden und sie wäre selbst nur wenig zur Schule gegangen, da könnte sie mich nicht genug unterstützen. Für mich käme nur die Hauptschule in Frage und vielleicht, aber auch nur vielleicht, die Realschule. Das fand ich in höchstem Maße frustrierend!

 

Dann kam dieser Intelligenztest. Da war ein Haufen Aufgaben - man musste eine fehlende Linie finden, die nächste Zahl einer Zahlenreihe bestimmen und jede Menge Kombinatorik. Das waren allesamt Dinge, die mir schon immer Spaß gemacht hatten. Ich war nach einer halben Stunde fertig, während alle anderen noch beschäftigt waren. Einen Monat später wurde das Ergebnis verkündet und ich hatte die viertbeste Arbeit abgegeben - wobei ich leider nicht mehr sagen kann, ob es nun die viertbeste der Schule oder von ganz Hamburg war. Wie dem auch sei - ich bekam nun die offizielle Erlausbnis, das Gymnasium besuchen zu dürfen. Yeah!

 

Das Gymnasium war dann allerdings ein Schock. Die Dinge, die mir bis dahin einfach so zuflogen, musste ich mir plötzlich hart erarbeiten. Hatte ich in der Grundschule immer eine 1 oder 2 und schlimmstenfalls mal eine 3, so war nun die 3 das beste, das ich erreichen konnte.

Es hing aber auch sehr vom Lehrer ab. Wir hatten einen Erdkundelehrer, der hat sich in jeder Schulstunde das Lehrbuch geschnappt und hat den Inhalt  auf die Tafel geschrieben und wir sollten das dann abschreiben. Was soll der Quatsch, das steht doch schon im Buch! Bei dem konnte niemand etwas lernen.

Ab es ging auch anders. Unser Englischlehrer, Mr. Ewald aus Detroit, brachte uns immer amerikanische Zeitungen mit. Wir diskutierten über Gott und die Welt - das war lebendiger Unterricht und das macht dann auch großen Spaß.

 

Das siebte Schuljahr war geprägt von der beginnenden Pubertät. Daher erwog ich, dieses Schuljahr zu wiederholen. Die 4 Fünfer könnten auch etwas damit zu tun gehabt haben. Der Rest der Schulzeit verlief ohne weiteren Komplikationen. Lediglich das kleine Latinum habe ich mir durch eine 5 noch versaut. Aber was solls, Medizin und Theologie wollte ich eh nicht studieren. Das Abi habe ich dann mit drei komma absolviert. Sicher keine Glanzleistung, aber für mich war das okay. Ich kann aber beim besten Willen nicht mehr sagen ob es 3,2 oder doch eher 3,7 gewesen ist - vermutlich etwas dazwischen. Ich bin gerne zur Schule gegangen, aber ich war dann auch irgendwie froh als es vorbei war.