Hannah

Ich habe lange gezögert, über diesen Teil in mir zu schreiben. Einerseits deswegen, weil es ein schmerzhafter Teíl ist - ein Teil, von dem ich vieles bereits erfolgreich verdrängt habe. Aber nun ist die Zeit des Erinnerns und so will diesen so wichtigen Teil in mir nicht aussparen. Da ich so manches bereits verdrängt habe mag es sein, dass ich nicht alles richtig wiedergeben kann. Aber so gut wie ich es vermag will ich es versuchen.
Ich habe auch deswegen gezögert, weil ich befürchte, dass meine Tochter es lesen könnte. Aber wer weiß? Vielleicht wäre genau das ja sogar richtig.

Hannah Berit Ronja, meine Tochter, wurde am 09.07.2000 um die Mittagszeit geboren.

Nachdem ich mich von meiner Frau getrennt hatte - Hannah war zu diesem Zeitpunkt knapp ein Jahr alt - gab es einen Scheidungskrieg, wie man ihn man wohl nur aus schlechten Filmen kennt. Um alles haben wir uns gestritten und meistens habe ich nachgegeben, weil ich die Auseinandersetzung einfach nicht länger ertragen konnte. Nur bei einer Sache, einer Sache von ungeheurer Wichtigkeit für mich - da gab ich nicht nach, ich konnte und wollte es nicht.
Meine Noch-Frau hat mir den Umgang mit meiner Tochter verweigert. Ihre Argumente waren schwach, aber sie hat darauf beharrt, obwohl sogar ihr eigener Anwalt versucht hatte, es ihr auszureden. Es kam zu einem Gerichtstermin und nachdem meine Frau befragt worden war, schüttelte der Richter nur mit dem Kopf. Es wurde schließlich festgelegt, dass ich Hannah alle zwei Wochen sehen darf. Weil meine Frau vehement dagegen protestiert hatte, wurde zusätzlich festgelegt, dass die ersten Kontakte unter Begleitung des Jugendamts stattfinden sollten, womit ich mich natürlich einverstanden erklärte.

Ich war pünktlich am ersten Besuchstermin, Hannah war es nicht. Natürlich lag es nicht an Hannah. Meine Frau meinte, Hannah sei noch nicht fertig. Also habe ich zusammen mit der Frau vom Jugendamt eine halbe Stunde vor dem Haus gewartet, bis Hannah endlich kam. Ich musste befürchten, dass sie gar nicht gekommen wäre, hätte ich alleine dort gestanden - insofern war ich für die Begleitung überaus dankbar.
Zu dritt spazierten wir dann in den Park und die Frau vom Jugendamt meinte, sie würde uns dann aus der Entfernung beobachten. Tatsächlich habe ich sie dann auch nicht mehr gesehen, aber ich habe auch gar nicht auf sie geachtet - Hannah war ja da! Wir spielten zusammen und sie sammelte Steine auf, die ich dann in den kleinen See warf. Hannah freute sich immer riesig, wenn der Stein nicht sofort unterging, sondern noch einmal kurz von der Wasseroberfläche abprallte. Wir gingen zu den Enten und Hannah lief ihnen nach, aber die Enten waren schneller und konnten sich vor den neugierigen Kinderhänden retten. Ich werde niemals vergessen wie es war, als wir einige Meter voneinander entfernt standen. Ich öffnete meine Arme und Hannah begann zu lächeln. Sie lief und lief auf mich zu und sprang geradezu in meine Arme und die Wucht dieses kleinen Wesens war so groß, dass ich ein klein wenig taumelte. Ich war in diesem Moment richtig glücklich. Und Hannah war es auch, ich sah es in ihren Augen.
Aber die Zeit war um und wir gingen zurück und trafen dann die Frau vom Jugendamt wieder und auch sie wirkte in diesem Moment, ja, irgendwie glücklich.

In dieser Art und Weise verliefen all diese Treffen. Wir waren immer pünktlich und irgendwann kam Hannah dazu. Und eines Tages kam dann ein Brief des Jugendamts und es wurde darin bestimmt, dass ab sofort ein unbegleiteter Umgang stattfinden soll.
Und so kam es dann auch. Wie üblich war ich pünktlich, Hannah kam später. Auch wenn alles um uns schlecht war, die Scheidung, der Zwist und all die Streitereien, so waren doch diese unsere Begegnungen für uns beide kleine Momente des Glücks.
Ich glaube, Hannah war dann vier mal bei mir zuhause.

Und all das hat meiner Frau offensichtlich nicht gefallen.
Denn kurze Zeit später erreichte mich ein Brief von einer Art "Kinderschutzorganisation", der mir eröffnete, dass Hannah einen Turm gezeichnet habe. Das sei ein offensichtliches Phallussymbol und würde deutlich darauf hinweisen, dass Hannah missbraucht worden sei.
In diesem Moment stand ich unter einem Schock!
Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, es war einfach ungeheuerlich!
Ja, Hannah war alleine mit mir. Ich habe sie ausgezogen und ich habe sie nackt gesehen, weil ich ihr die Windeln gewechselt habe. Aber das ist doch ganz normal!
Später kam von meiner Frau ein weiterer Missbrauchsvorwurf.

Ich war durch den ganzen Scheidungskrieg seelisch bereits ganz erheblich beschädigt. Ich war bereits am Ende meiner Kräfte! Und dann das!
Ich konnte nicht das Gegenteil beweisen - ja, wie denn auch? WIe kann man beweisen, dass man ein Kind NICHT missbraucht hat? Genau - es geht nicht. Ich hatte keinen Ausweg und in diesem Moment erkannte ich, dass ich meine Tochter verloren hatte. Hätte ich gekämpft, ich wäre daran zerbrochen.

Ich habe dann nicht wieder versucht, mit Hannah Kontakt aufzunehmen - und es hat mich fast zerrissen. Und nun ist wohl alles zu spät. Vielleicht hätte ich kämpfen müssen, ja. Aber ich konnte es nicht, ich war bereits gebrochen. Hannah, es tut mir sehr leid!
Wer weiß - vielleicht gibt es in der Zukunft doch noch einen Weg, auf dem wir wieder zueinander finden können. Und wenn es nur für einen Moment ist.