Nach dem Scheitern des Mailbox-Projekts war ich arbeitslos. Das war eine blöde und schwere Zeit, denn ich hatte ja nichts gelernt, keine Ausbildung absolviert. Ich hatte zwar studiert, hatte aber keinen Abschluss - die Zukunfzsaussichten waren alles andere als rosig und mein Selbstwertgefühl schmolz wie Schokolade in der Sonne langsam dahin.
Klar habe ich mich beworben, sehr oft sogar - ich wollte ja schließlich auch arbeiten. Aber es sah lange Zeit ziemlich düster aus.
Es war inzwischen wohl ein dreiviertel Jahr vergangen als ich ein Inserat der Firma HLS entdeckte. Dort wurden Programmierer für ein Warenwirtschaftssystem gesucht, das Thema interessierte mich und das beste daran war, dass sich die Räume dieser Firma in unserer unmittelbaren Nähe befanden, ein Fußweg von höchstens zehn Minuten. Also schrieb ich wieder eine Bewerbung und stellte dabei fest, dass ich gar kein aktuelles Foto von mir hatte. Also fuhr ich zum Hauptbahnhof und setzte mich in einen Foto-Automaten. Die dort gemachten Fotos waren grauenvoll! Ich trug zu diesem Zeitpunkt einen - für meine Verhältnisse - recht langen Bart und auf den Fotos sah ich aus wie eine Mischung aus Karl Marx und einem Verbrecher. Es muss wohl auch insgesamt die schlechteste Bewerbung meines Lebens gewesen sein. Dennoch tütete ich alles tapfer ein und warf den Brief persönlich in den Briefkasten der Firma.
Tatsächlich erhielt ich eine Woche später eine Antwort und ich wurde zu einem Gespräch eingeladen. Ich habe mich sehr darüber gewundert, aber okay, gefreut hat es mich natürlich. Auch das Gespräch verlief positiv und zum Beginn des nächsten Monats begann ich mit meiner Arbeit. Dass es eine seltsame Firma war, hatte ich ja bereits geahnt. Dann stellte ich fest, dass vier neue Mitarbeiter eingestellt worden waren, allerdings mit dem Ziel, nur zwei davon fest anzustellen. Nach zwei Monaten sollte entschieden werden, wer bleiben darf und wer wieder gehen muss. Ich wurde übernommen, aber einen, der gehen musste, traf es besonders hart, denn in seinem vorherigen Job hatte er mehr als das doppelte verdient und nun würde sein Arbeitslosengeld nach dem viel niedrigeren Gehalt bei HLS berechnet werden.
Das Gehalt war auch wirklich nicht sonderlich hoch, ich glaube 3.700 Mark Brutto. Aber wenn man eine Weile arbeitslos war, dann ist das erstmal egal. In der Firma herrschte eine seltsame Stimmung. Es gab keinen Betriebsrat und es wurde gemunkelt, dass der Versuch einer Betriebsratsgründung eine unmittelbare Kündigung zur Folge haben würde.
Irgendwann hatte Birgit mich überredet, mit ihr zusammen in einen Bildungsurlaub zu fahren. Nachdem ich den entsprechenden Antrag in der Firma abgegeben hatte, wurde ich zum Chef zitiert. Was mir denn wohl einfallen würde, Bildungsurlaub zu wollen? Das sei ja höchst unsolidarisch den anderen gegenüber! Ich hab dann seelenruhig erklärt, dass jeder Arbeitnehmer darauf Anspruch hat und dass ich mir das nicht ausreden lassen werde. Es war ein kurzes Gespräch, in dem mein Chef sehr wütend wurde und in dem mir klar wurde, dass diese berufliche Episode nur von kurzer Dauer sein würde.
Also sah ich mich nach anderer Arbeit um und wurde dabei schnell fündig und nach nur eineinhalb Jahren wechselte ich den Arbeitgeber und arbeitete fortan für die Firma P.INK. Die Firma hat das Redaktionssystem entwickelt, welches damals von BILD benutzt wurde und diese Software sollte um einen Logistikbereich erweitert werden - und das war meine Aufgabe. Ich arbeitete mich schnell ein, lernte in dieser Zeit unglaublich viel und kam gut voran. Die Atmosphäre dort war toll, die Räume waren angenehm und hell, man tauschte sich viel aus, es gab gemeinsame Frühstücke und Gratis-Softdrinks. Es hat mir alles super gefallen und ich war gern dort und Big Boss Michael Poliza war ein überaus charismatischer Mensch.
Aber plötzlich - von einem Tag auf den anderen - war es aus. Der Partner des Chefs hatte sein Geld aus der Firma abgezogen und es konnten keine Gehälter mehr gezahlt werden. Ich kenne keine Hintergründe, aber ich weiß noch, dass zu dieser Zeit die Hauseingänge von finster aussehenden Gestalten beobachtet wurden. Es standen dort Autos mit getönten Scheiben und gelegentlich konnte ich eine Spiegelreflexkamera sehen. Es werden wohl Privatdetektive gewesen sein - warum auch immer.
Fest stand jedenfalls: Ich war wieder arbeitslos - diesmal nach nur vier Monaten.
Diesmal hat es nur ein halbes Jahr gedauert, dann fand ich Arbeit in einer Werbeagentur. Doch auch hier kam es anders, denn obwohl ich einen unterschriebenen Vertrag quasi in der Tasche hatte, gab es noch ein weiteres Vorstellungsgespräch bei einer Firma, die mich überaus interessierte: Stella - The Musical Company. Musicals waren nie wirklich meine Sache, aber Musik als solche hat mich mein Leben lang begleitet und ich stellte es mir spannend vor, dort zu arbeiten. In diesem Gespräch war ich total selbstsicher, weil mir ja nichts passieren konnte - wenn das nicht klappt, dann mach ich eben den Werbeagentur-Job, was solls? Vermutlich war es gerade diese innere Sicherheit, die dazu führte, dass ich den Job bei Stella ebenfalls bekam. Und dann war es richtig schwierig, dem Job bei der Agentur wieder abzusagen, weil die mich unbedingt haben wollten - das tat meinem Selbstbewusstsein so richtig gut. Ich war gespannt wie es ist, zur Abwechslung mal in einer richtig großen Firma zu arbeiten.
Im ersten Monat bei Stella machte ich eine Tour durch alle Abteilungen. Ich saß an der Ticketkasse, beteiligte mich an der Planung eines neuen Musicals, betreute Künstler und hatte Telefondienst. Am Ende dieser Zeit hatte ich ein gutes Gefühl für die Zusammenhänge und ich begann mich in diesem Laden so richtig wohlzufühlen. In den darauf folgenden Jahren habe ich sehr viel gelernt und es war dort wirklich eine tolle Truppe. Ich werd nie meinen schwulen Kollegen vergessen, der ohne Ausnahme jeden Tag eine richtig gute Laune versprühte. Dort habe ich Leute kennengelernt, mit denen ich auch heute noch einen lockeren Kontakt habe. Und wenn ich so zurückblicke, dann kann ich sagen, dass Stella mein bester Job von allen war, zumal ich dort auch wirklich viel bewirken konnte. Viele bisher manuell durchgeführte Prozesse konnte ich automatisieren und ich habe dafür viel Dankbarkeit erfahren. Ich habe es auch reichlich ausgenutzt, dass ich Tickets günstiger bekam und mir die besten Plätze aussuchen konnte. Cats, Phantom der Oper, Starlight Express, wir waren überall und einmal bin ich mit Frau und Kindern nach Stuttgart geflogen, um Miss Saigon zu sehen.
Aber ich erkannte auch, dass diese schöne Phase ein Ende haben würde. Es war alles auf Wachstum ausgerichtet, neue Musicals, neue Standorte. Aber die Menschen hatten plötzlich nicht mehr so viel Geld zur Verfügung wie früher und die Besucherzahlen stagnierten - ein Musicalbesuch kann eine teure Angelegenheit sein. Das hätte man alles kompensieren können, würde Big Boss Rolf Deyhle nicht ständig den Hauptteil des Firmengewinns abschöpfen, um das Geld in Immobilienprojekte zu investieren. Ich begann langsam damit, einen anderen Job zu suchen. Etwa zu dieser Zeit bekam ich einen neuen Chef. Und das war ein Blender, eine Niete, eine solche Ballung an Inkompetenz hatte ich bis dahin nicht erlebt und ich intensivierte meine Jobsuche.
Ich fand auch recht schnell eine Stelle als Consultant, also als Berater bei der Firma GMO. Ein Consultant ist ein vom Prinzip her Leiharbeiter, aber Consultant klingt halt besser. Mein erster Einsatz für GMO führte mich zum Axel Springer Verlag, dort sollte für eine Tochterfirma ein Web-Shop gebaut werden, ein weiterer GMO-Mitarbeiter war bereits vor Ort. Hinsichtlich des Shops gab es sehr spezifische Anforderungen, so dass das meiste eigens programmiert werden musste und nach einem dreiviertel Jahr waren wir damit fertig. Da nun schon das nächste Projekt vor der Tür stand und außerdem der Shop ja auch betrieben und gewartet werden muss, fragte ich meinen Axel-Springer.Chef, ob es nicht Sinn machen würde, wenn ich direkt für Axel Springer arbeiten würde. Und er gab ohne zu zögern eine positive Antwort. Und so wechselte ich erneut den Arbeitgeber. Das war auch der richtige Zeitpunkt, denn in der GMO zeigten sich Auflösungserscheinungen. Ich weiß nichts genaues, aber Gerüchte berichteten, dass der Geschäftsführer mit der Firmenkasse verschwunden sei.
Da ich genau weiß wie es ist, in ärmlichen Verhältnissen zu leben habe ich bei all meinen Jobwechseln darauf geachtet, das Gehalt zu steigern. Ich wollte erst 50.000 Mark im Jahr verdienen, dann 75.000 und schließlich 100.000 Mark und dieses Ziel hatte ich bei GMO erreicht. Bei Axel Springer wollte in das noch steigern und bei den Verhandlungen nannte ich ein Fantasie-Gehalt, das weit über dem Ziel lag, das ich eigentlich hätte erreichen wollen. Es wurde ohne zu zögern akzeptiert. Nach Ablauf der Probezeit bat ich um eine Gehaltserhöhung von zehn Prozent und auch das wurde einfach so akzeptiert. Es war die Zeit des Internet-Hypes und sie hätten wohl jeden eingestellt, der das Wort "Internet" nur aussprechen konnte. Ich hätte wohl auch das Doppelte verlangen können, aber ich war zufrieden und für mich war das irre viel Geld - und das bei 13,7 Gehältern, Bonuszahlungen und Aktienoptionen.
Leider hatte ich von diesem Geld nie wirklich etwas, denn zu dieser Zeit ging meine Ehe in die Brüche und das meiste ging drauf für Unterhaltszahlungen und was übrigblieb, das wollten die Anwälte und das Gericht. Trotz fetten Gehalts habe ich mich lange Zeit vom billigsten Aldi-Brot und dem billigsten Käse ernährt. Nach einigen Jahren besserte sich die Situation langsam. Den Unterhalt für meine Tochter zahle ich natürlich heute noch.
Nun arbeitete ich ausgerechnet für Axel Springer, den Klassenfeind und Herausgeber der "BILD-Zeitung". Ich schreibe das in Anführungszeichen, weil es ein Widerspruch in sich selbst ist. Eine Zeitung soll unabhängige und objektive Berichterstattung garantieren. BILD hingegen verbreitet Meinungen und Hetze. Ich konnte mich nie wirklich damit arrangieren. Aber ich lernte, dass die Menschen in diesem Unternehmen anders sind als es zu vermuten gewesen wäre. Es waren keine reaktionären Spinner und erzkonservative alte Knacker. Nein, die meisten waren jung und weltoffen. Und es gab eine lebendige Firmenkultur, die ich als vorbildlich empfand. Zwischen Welt, BILD und dem Hamburger Abendblatt gab es immer eine gewisse Konkurrenz und es wurden - anders vermag ich es nicht auszudrücken - liebevolle Kleinkriege geführt. Insgesamt fühlte es sich an wie eine große Familie und das war ein verdammt gutes Gefühl! Was die Arbeit betraf war ich in der Anfangszeit bei Springer richtig glücklich, es war fast so gut wie bei Stella.
Das änderte sich, als Herr Döpfner Vorstandsvorsitzender wurde.
Der Veränderungsprozess war schleichend und zunächst nicht wahrnehmbar. Es waren zunächst eine Reihe von Details, die geändert wurden. Das Arbeitszeiterfassungssystem wurde abgeschafft, dadurch gab es keine Überstunden mehr. Das Treuegeld wurde abgeschafft, weil - Originalbegründung - "Treue nicht mehr zeitgemäß ist". Hallo? Gehts noch? Nach und nach wurde alles immer unangenehmer, die Stimmung war dementsprechend.
Wir haben uns immer gesagt: Solange uns die Druckereien gehören ist alles in Ordnung und dem Unternehmen geht es gut. Dann wurden die Druckereien verkauft. Daraufhin haben wir uns eingeredet, dass solange die Bild-Redaktion in Hamburg ist, wohl alles in Ordnung sei. BILD wurde nach Berlin verlegt. Schließlich kamen wir zu dem Schluss, dass solange wir wöchentlich eine Gratisausgabe der Hörzu bekommen, wohl alles in Ordnung sei. Das Unternehmen verkaufte sämtliche Zeitschriften und fast alle Zeitungen und es gab keine Hörzu mehr. Als letzten Strohhalm erkannten wir, dass solange uns die Gebäude gehören, wohl alles gut sein müsse. Das Hamburger Gebäude wurde verkauft. Irgendwann gab es ein großes Meeting, in dem verkündet wurde, wer in drei Wochen (!!!) nach Berlin umzuziehen hat und wen es in drei Monaten und in neun Monaten treffen würde. Glücklicherweise war mein Name auf keiner dieser Listen. Trotzdem war offensichtlich, dass der Hamburger Standort keine Zukunft hatte. Erschwerend kam hinzu, dass ich im Logistikbereich tätig war. Wir hatten aber keine Zeitschriften und fast keine Zeitungen mehr und dann braucht man auch kaum noch Logistik. Mir wurde immer deutlicher klar, dass ich entweder nach Berlin werde gehen müssen (was ich nicht wollte, denn dann wäre ich NOCH weiter von Andrea entfernt) oder meinen Job verlieren werde. Allerdings weigerte ich mich, diese Realität zu akzeptieren. Es war zu bequem und zu gut bezahlt als dass ich hätte etwas ändern wollen.
Dann passierte etwas, das alles änderte. Ich will (noch?) nicht im Detail darüber berichten, aber es war ein seelischer Tiefschlag, den ich nicht so ohne weiteres verkraften konnte. Und die Folge war, dass ich mich beruflich neu orientierte.
Ich fand drei mögliche Stellen, einmal bei der Bahn in Frankfurt - das war wirklich interessant und hätte sehr gepasst und das Gehalt war erstklassig. Aber jeden Tag nach Frankfurt pendeln, will ich das? Nein! Dann war da eine kleine Firma im Schwalm-Eder-Kreis und ich ging lange davon aus, dass es das werden würde und ich hatte auch schon einen Vertrag zuhause liegen. Schließlich hatte ich ein weiteres Gespräch in Homberg (Ohm) und dieses Gespräch war so, ja, so eigenartig, dass ich irgendwie fasziniert war. Ich spürte, dass ich gebraucht wurde und ich spürte sehr viel Chaos um mich herum. Irgendwie kam ich zu dem Schluss, dass ich hier wohl richtig sein würde und ich nahm das Angebot an. Diese Firma nennt sich AFB eSolutions GmbH & Co KG. Ich finde, das ist ein viel zu sperriger Name und nenne es künftig einfach AFB.
Was macht diese Firma? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Es ist im wesentlichen ein Handelsunternehmen, es betreibt die Shops elektrotools.de und elektromall.de. Aber wir machen noch einiges mehr, beispielsweise sorgen wir dafür, dass die Katalogdaten verschiedener Hersteller in die großen geschlossenen Handelsplattformen wie Mercateo und Meplato übertragen werden. Wir nehmen Katalogdaten entgegen, veredeln sie und übertragen sie an die Zielplattform.
Die Arbeit bei AFB war - besonders zu Anfang - nicht ganz einfach, weil da Systeme liefen, deren Funktion niemand kannte und es keine dokumentierten Prozesse gab und auch deswegen, weil wir uns unsere Arbeitsstruktur erst schaffen mussten. Alles war geprägt von Chaos - gestern war etwas megawichtig, was heute keine Bedeutung mehr hat, so kann man einfach nicht effektiv arbeiten, das ist Verschwendung von Ressourcen. Nach Einführung eines Ticketsystems besserte sich die Lage und wir konnten beginnen, unsere Arbeit zu planen.
Ich arbeite gerne dort. Zum einen deswegen, weil ich spüre, dass meine Arbeit wichtig ist. Und zum anderen deswegen, weil ich die Menschen dort einfach mag! Es ist wirklich eine tolle Truppe und ich fühle mich dort pudelwohl.
Was meine Arbeit bei AFB betrifft, so zeichnet sich eine Änderung ab. Ich werde darüber berichten, wenn es in trockenen Tüchern ist. Nur soviel sei gesagt: Wenn es klappt, dann werde ich eine neue und zusätzliche Rolle übernehmen. Ich bin gespannt!