Trauer

Die Trauer in mir - was ist es und was macht es mit mir?

 

Ich hatte nie zuvor ein derart umfassendes emotionales Erlebnis. Die Trauer hat mich vollends ausgefüllt. Sie war Teil meines Atmens, meines Denkens, jedes Geräusch und alles was ich sah war erfüllt von Trauer. Es gab für mich keine Welt mehr und kein Leben, es gab nichts mehr - nur noch diesen tief empfundenen Schmerz und nur wenige Menschen können im Ansatz nachempfinden, wie sich das anfühlt.

 

Ich begann in mich zu horchen und nach dem inneren Kern dieser Trauer zu forschen. Und nach einiger Zeit stellt ich fest, dass diese Trauer zwei verschiedene Aspekte hat.

Der eine Aspekt ist mein Verlust. Ich habe meine Partnerin verloren, meine Ehefrau, meine große Liebe, meinen Lebensmotor, meine Lehrerin, meinen Schutzschild, meinen Seelenanker.

 

Dabei ist mir klargeworden, dass diese Trauer meines Verlustes wegen eine Form des Selbstmitleids ist. Ich weine meines Verlustes wegen. Ich schäme mich nicht deswegen, denn dieser Verlust hat eine Dimension, die so gewaltig ist, dass es kaum zu erfassen ist. Und so hat diese Art Trauer ihre Berechtigung. Aber Selbstmitleid hilft mir nicht weiter, denn Selbstmitleid lenkt ab vom anderen und wichtigeren Aspekt der Trauer in mir.

Es war schwer und extrem schmerzlich und doch ist es mir im Laufe der Zeit gelungen, dieses Selbstmitleid in etwas anderes zu verwandeln. Es hat sich noch nicht gefestigt und ein Teil dieses Selbstmitleids ist auch immer noch in mir. Aber ich kann es langsam akzeptieren. Ich bin nun ohne Andrea - das ist einfach so. Ich muss es akzeptieren und lernen, ohne sie zu leben. Das ist mein Weg.

Ich spüre nun auch Dankbarkeit.

Dankbarkeit dafür, dass wir uns kennenlernen durften, was wirklich extrem unwahrscheinlich war.

Dankbarkeit dafür, dass wir es geschafft haben, einander zu öffnen.

Dankbarkeit für die Zeit, die wir miteinander verbringen durften und Dankbarkeit für die Liebe zwischen uns.

Und Dankbarkeit dafür, dass ich ihr angesichts ihres Todes diese meine Liebe schenken durfte.

 

Der andere Aspekt meiner Trauer ist Andreas Krankheit und ihr Kampf dagegen.

Andrea war so voller Energie, voller Pläne und Ziele. Wir hatten Reisen geplant, es gab so viel tu tun, zu schreiben, zu helfen. Überall gab es etwas zu tun und überall war Andrea dabei.

Dann kam der Krebs und mit einmal war all das vorbei. Jetzt gab es nur noch das Ziel, diesen Krebs zu besiegen und sonst nichts mehr. Ein dreiviertel Jahr musste ich mit ansehen, wie Andrea sich veränderte. Ich spürte die Angst in ihr, dann wieder die Zuversicht. Sie kämpfte wie ich sie kannte, aber langsam kamen auch Zweifel hinzu.

Andrea hat bis ins letzte Detail alles gemacht, was die Ärzte ihr sagten und rieten - sie wollte die perfekte Therapie. Dann die Chemotherapie, die Operation, die nächste Chemo und schließlich die Bestrahlung. "Alles nicht schlimm", sagte sie immer, "alles nicht schlimm!". Sie war mit allem so unendlich tapfer und vorbildlich! Sie hätte es schaffen müssen! Und doch sah ich, wie sie Tag für Tag dem Tod näherzurücken schien und ich wusste ja auch, dass dem tatsächlich so war. Aber es durfte nicht sein! Nicht sie! Nicht Andrea! Ich vergrub jeden Gedanken an das Unvermeidliche ganz tief im Inneren meiner Seele und lebte fortan nur noch dafür, sie zu halten und ihr die Kraft und Zuversicht zu geben, die ich ganz zum Schluss selbst nicht mehr hatte.

 

Andrea hat ihre gesamte Lebenskraft aufgebracht, um gegen den Krebs zu kämpfen. All ihre Qualen waren vergebens. Was für eine Verschwendung!

Deswegen weine ich und ich kann nicht anders.

 

Neben der Trauer in mir habe ich nach Andreas Tod eine unendlich große Erschöpfung gespürt. Es schien mir so als wäre all meine Kraft aus mir herausgepresst worden. Ein dreiviertel Jahr habe ich nur und ausschließlich dafür gelebt, dass Andrea wieder gesund wird. Und mit einem Schlag hatte dieses lebenserfüllende Ziel keinen Sinn mehr. Meine Welt veränderte sich. Die Farben verschwanden. Wohl nahm ich all die Farben wahr, aber die Farben hatten keine Bedeutung mehr, alles um mich herum war irgendwie nur noch grau. Nicht schwarz, aber grau, diffus, schwammig, undeutlich. Ich verlor den Halt, der Boden schien zu wanken. Die Welt um mich herum wurde zu einem dichten Nebel und ich war unfähig, darin etwas Konkretes zu erkennen. Erst hatte ich Andrea verloren und nun auch mich selbst. Ich ließ mich fallen und trieb in meiner inneren Schattenwelt umher. Bei dieser Reise durch mich selbst begegnete ich vielen Erinnerungen und nicht alles davon war schön. Plötzlich spürte ich Anwesenheit einer neuen Erinnerung. Es war eine Stimme, die sprach: "Nicht traurig sein, Mausbar. Sei nicht traurig!". Es war die Andrea in mir. Ich sah sie vor mir stehen und sie blickte mich an mit einem leicht vorwurfsvollen Blick. Sie wollte nie, dass andere wegen ihr traurig sind. Es war diese Stimme und dieses Bild von ihr, das mich langsam aus meinem wochenlangen Traum aufwachen ließ. Danke, mein Schatz!