Selbstvorwürfe

Schuld

Bin ich Schuld an Andreas Tod? Würde sie heute vielleicht noch leben, hätte ich darauf bestanden, dass der Arzt uns besucht?

Diese Fragen stelle ich mir fast täglich.

 

Als Andrea mit der Arztpraxis telefonierte und den Hausbesuch absagte, da war sie mit einem Mal so dermaßen lebendig und präsent, dass ich keine andere Wahl hatte als ihre Entscheidung zu respektieren. Sie wollte nicht, dass ein Arzt kommt - diese Entscheidung war eindeutig und vollkommen unmissverständlich. Hätte ich mich dem entgegenstellen sollen? Ich hatte den Hausbesuch arrangiert, weil ich das plötzliche Gefühl einer Gefahr in mir verspürte. Weil irgendwas plötzlich anders war, ich aber gleichzeitig nicht erkennen konnte, was es war. Weil ich einfach wollte, dass ein Arzt kommt, der vielleicht Dinge sieht, die ich selbst nicht zu erkennen vermag. Ja, ich hatte Angst, sehr große Angst sogar!

Aber dann sprach Andrea und in ihrer Stimme spürte ich eine Kraft, die ich schon längst verloren glaubte. Sie war wieder da! Und sie würde gesund werden - das glaubte ich in diesem Moment ganz fest und plötzlich war auch wieder Hoffnung in mir. Es war wohl ihr Stolz, der sie antrieb. Dieser Stolz hat immer ihr Leben bestimmt und so war ihr Tod denn auch wie ihr Leben - stolz und selbstbestimmt.

 

Und nein, ich trage keine Schuld in mir, obwohl mir dieser Gedanke immer und immer wieder kommt. Ich habe Anteil an ihrem Tod, bin aber nicht daran schuldig. Hätte ich auf den Arztbesuch bestanden, dann wäre sie wohl einen Tag früher ins Krankenhaus gekommen. Dies aber hätte ihren Stolz verletzt und der Tumor wäre sowieso dagewesen. Andrea hat ihren Weg selbst gewählt - bis ganz zum Schluss.

 

Zeit

Habe ich genug Zeit mit Andrea verbracht?

Diese Frage stelle ich mir auch oft, denn ich wollte - gerade in der Zeit ihrer Krankheit - auch für mich selbst sein.

 

In der Zeit zwischen Soko und dem Spielfilm saß ich immer in der Küche. Ich habe dort geraucht, Bier getrunken und mein Spiel auf dem Tablet gespielt. Es ist ein recht doofes Spiel, in dem es darum geht, mindestens drei Steine nebeneinanderzubekommen. Trivial also, aber vielleicht war es gerade diese Einfachheit, die einen fast meditativen Zustand in mir auslöste. Für eine Stunde war ich raus aus allem und nur für mich, fern von jeglichem Gedanken an Krebs und den Tod. Für eine Stunde gab es das alles nicht und als ich dann wieder bei Andrea war, war ich ruhig und entspannt. Und so denke ich letztlich, dass es gut für uns beide gewesen ist.

 

Als Andrea zu Bett ging, konnte ich meistens nicht mitgehen. Sie hat oft gesagt: "Mausbär, komm doch mit!" - aber ich konnte nicht, denn ich spürte das schwarze Loch in mir. Ich musste stark für sie sein, sie halten und stützen, ihr Mut und Kraft geben, sie beschützen. Doch gerade in den späteren Abendstunden spürte ich die Kraft in mir schwinden und ich war erfüllt von einer Angst, die mich aufzufressen schien.

Hätte ich gewusst, dass der Tod schon so nahe war, hätte ich sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Aber auch wenn man weiß wie es endet, man blendet es aus. Es darf einfach nicht sein! Ich habe mich an die Hoffnung geklammert, weil alles andere - im wahrsten Sinne des Wortes - undenkbar war. Und so habe ich sicher manches übersehen oder falsch bewertet.

Immer stark sein zu müssen frisst einen auf. Abends war ich oft nur noch ein Häuflein Elend und erst nachdem ich mich aus diesem seelischen Loch befreien konnte, ging ich auch ins Bett. Andrea schlief dann fast immer schon und ich fühlte mich schuldig und elendig.

 

Hilfe

Hätte ich mir früher Hilfe holen sollen?

Klare Antwort: Ja, ja und nochmals ja!

In der allerletzten Zeit war Andrea ein Pflegefall und es war meine Pflicht, entsprechende Maßnahmen einzuleiten und mir Hilfe zu holen. An Andreas Tod hätte das nichts geändert, aber es hätte etwas leichter für sie sein müssen.

Aber ich überlege gerade - was hätte diese Hilfe denn machen sollen? Das, was Andrea am allermeisten belastet hat, waren die Gänge zur Toilette - genauer gesagt, das Aufstehen auf der Toilette. Durch die räumliche Lage, insbesondere wegen der Dusche, hätte ihr aber ein Helfer auch nicht besser zur Seite stehen können als ich.

Das einzige, das Sinn gemacht hätte, wäre eine Änderung des Ortes. Andrea hätte an einem Ort sein müssen, an dem sie leicht auf Toilette gehen kann. Aber Andrea wollte zuhause sein, das war ihr überaus wichtig! Und sie hat auch keine Hilfe gewollt. SIe wollte nicht, dass sie jemand so sieht wie sie war - es durfte ja nichtmal der Hausarzt kommen.

Und so war denn wohl doch alles richtig. Dennoch fühle ich mich schuldig dafür.

 

Verpasste Gelegenheiten

Ich hätte Andrea noch so viel erzählen wollen! Und ich hatte noch so viele Fragen an sie! Und doch kam es nicht dazu, weil wir ja noch unendlich viel Zeit zu haben schienen. Ich bin sehr traurig darüber, dass ich die Gelegenheiten zu sprechen und zu fragen nicht genutzt habe.

 

Carpe diem, quam minimum credula postero.

Genieße/nutze den Tag, und vertraue möglichst wenig auf den folgenden!

 

Wie wahr!

Und wie bitter diese Lektion!