Meine Worte

Es war etwa drei Tage nach Andreas Tod. Die Welt war für mich zu diesem Zeitpunkt feindlich, ich konnte die Nähe anderer Menschen nicht ertragen, ja im Grunde konnte ich meine eigene Nähe nicht ertragen. Ich war traumatisiert und das bin ich heute immer noch. Aber zu diesem Zeitpunkt war mir im Grunde alles unerträglich. Das Haus war mein Feind, ebenso der Garten. Ich war gefangen in einer Welt, die plötzlich mein Feind war und es war an Unerträglichkeit nicht zu überbieten.

 

Plötzlich begannen sich Worte in mir zu bilden, die sich zu Sätzen formten - ich kann es kaum beschreiben. Es war keine Stimme, die in mir sprach, doch aber waren es Worte. Sie kamen immer wieder, manchmal kam Neues dazu, vieles wiederholte sich. Ich wollte das nicht! Die Worte schienen immer dann ganz besonders deutlich, wenn ich es wirklich nicht brauchen konnte - beim Autofahren, unter der Dusche oder wenn ich auf Klo saß. Es war lästig und ich wollte, dass das aufhört. Hab ich denn nicht genug durchgemacht, müssen mich nun auch noch Worte verfolgen?

 

Schließlich habe ich damit begonnen, diese Worte und Sätze aufzuschreiben - in der Hoffnung, dass es dann vielleicht aufhören würde. Und je mehr ich schrieb, umso klarer erkannte ich, dass die Worte und Sätze Andreas und meine Geschichte erzählten. Unsere ganz besondere und große Liebe fand ich plötzlich in Worten vor mir. Ich war fassungslos! Und ich war tief gerührt, denn diese Sätze trafen den Kern, unseren Kern,  ganz genau.

Ich habe dann noch etwas an der Reihenfolge gefeilt und Kleingkeiten korrigiert. Aber zu 99 Prozent war der Text, so wie ich ihn zunächst einmal aufgeschrieben hatte, bereits fertig.

 

Ich hatte nie vor, etwas derartiges zu schreiben. Und ebenfalls hatte ich ganz gewiss nie vor, in einer vollen Kirche zu sprechen. Ich kann das nicht, ich habe Angst, wenn ich die Aufmerksamkeit vieler Menschen habe, wenn ich im Mittelpunkt stehe. Ich stehe lieber ganz am Rande, unscheinbar, das ist meine Welt, dort gehöre ich hin.

 

Ich zeigte Pfarrer Leissler den Text, er schwieg lang und meinte dann zu mir, es sei eine zweiseitige Liebeserklärung. Und damit hatte er recht. Er schlug vor, das ich den Text auf der Trauerfeier sprechen sollte. Ich zog es in Erwägung, wusste aber gleichzeitig, dass ich es nicht tun würde. Ich auf einer Bühne? Sprechen? Ich? Nein, auf gar keinen Fall. Und schon gar nicht in einer vollen Kirche!

Herr Leissler meinte, dass er den Text sprechen würde, wenn ich es denn nicht könnte. Dafür war ich ihm sehr dankbar, aber gleichzeitig begann es in mir zu arbeiten, weil ich befürchtete, dass er den Text nicht so sprechen würde wie er gesprochen werden muss.

An einigen Stellen ist die Betonung entscheidend, andere Stellen bedürfen einer kurzen Pause im Redefluss und manchmal muss die Stimme die Tonlage ändern, um das Wesentliche zu betonen.

 

Als dann der Moment kam trat der Pharrer zu mir und fragte, ob ich denn sprechen könne. Und in diesem Moment wusste ich, dass ich sprechen muss und ich folgte ohne Zögern. Ich war für einen Moment voller Angst, weil ich all die vielen Menschen sah.

Aber als ich zu sprechen begann, veränderte sich alles. Ich sah all die Menschen, ihre Gesichter und ich erkannte viele von ihnen. Gleichzeitig war da eine Art Distanz, eine Art Schutzschild und ich war mit einmal frei von jeglicher Angst. Frei von Unsicherheit und in diesem Moment war ich für kurze Zeit sogar frei von Trauer. Es gab in diesem Moment nichts anderes - nur mich und diese Worte. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube ich habe die Worte dann auch tatsächlich so sagen können, wie es richtig war.

Abgesehen vom Anfang habe ich selbst an diese Rede keinerlei Erinnerung. Nachdem ich von der Bühne gekommen war, sah ich in leuchtende Augen und man klopfte mir auf die Schultern und umarmte mich und ich fragte mich, wieso. Was war denn geschehen? Ich hab das in diesem Moment einfach nicht verstanden.

 

 


Andrea Regina Sommer, meine Frau, war ein besonderer Mensch.

Für mich alleine schon deswegen, weil sie meine Ehefrau war, weil sie mein Mensch war, der Mensch, der mich vollständig machte.
Aber sie war auch deswegen besonders, weil es ihr stets ein inneres Bedürfnis war, diese Welt für uns alle zu einem besseren Ort zu machen. Sie schaute sich um, sah was zu tun war - und sie tat es.
Und immer, wenn sie helfen konnte, dann freute sie sich, weil sie sah, dass die Welt nun ein kleines Stück besser geworden war.

Andrea engagierte sich in Vereinen, für die Gemeinde, die Feuerwehr, die Schulen, die sie so liebte und für die Zeitung, die ihr viel bedeutet hat. Sie war Blut- und Stammzellenspenderin, sie war ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht und sie hatte ein Patenkind in Afrika. Und als Sozialdemokratin setzte sie sich für eine weltoffene und tolerante Gesellschaft ein.
Jeder, der sie um Hilfe oder Unterstützung oder ein offenes Gespräch bat, konnte sicher sein, dass sie da war.

Die Kraft für ihr Handeln schöpfte sie aus ihrer Liebe zu ihrem Sohn, ihrer Familie und Freunden. Natürlich war sie auch ein Mensch mit Schwächen und Fehlern, aber es waren doch auch gerade diese kleinen Schwächen, die sie so besonders liebenswert machte.

In der langen Zeit unserer Fernbeziehung haben wir uns gefunden. Wir tauschten uns in einer Intensität aus, die wir nie zuvor kannten. Wir öffneten einander unser Herz und unsere Seele und dabei sind uns auch die dunklen Dinge nicht verborgen geblieben. So haben wir erkannt, dass wir füreinander bestimmt sind und haben geheiratet - trotz der Entfernung, die uns voneinander trennt. Aber das, was uns miteinander verband, war weit mehr als nur eine Ehe.

Andrea hat versucht, in Hamburg Arbeit zu finden, um bei mir sein zu können. Aber wir beide spürten, dass es falsch gewesen wäre und ich wusste auch, dass Rabenau ihr Ort ist.
Dann erfuhr mein Leben eine schwere Krise. Andrea gab mir Kraft, Mut und Zuversicht, so dass ich diese Phase meines Lebens beenden und zu ihr ziehen konnte. Und so wurde Rabenau dann auch mein Ort.

Man mag es als Gottes Fügung bezeichnen, dass ich bei Andrea sein konnte, als sie diese schwere Krankheit heimsuchte und dass ich ihr auch angesichts ihres Todes meine Liebe schenken durfte.

Als der Krebs kam, verzagte Andrea nicht, sondern sie stellte sich dem Kampf und sie kämpfte bis zum Schluss. Ich habe früh erfahren, dass diese Krankheit nicht heilbar sein würde. Gesagt habe ich ihr das nie, weil ich ihr den Lebensmut nicht nehmen wollte, der doch so wichtig ist. Ich habe nun erkannt, dass sie selbst es längst gewusst haben muss, es aber mir nie sagte, um meine Lebenskraft zu schonen.

Ihr Tod war wie ihr Leben - selbstbestimmt und stolz!

Sie war Organspenderin. Hilfsbereit bis über den Tod hinaus - das war Andrea Sommer.