Ich habe viele geliebte Menschen verloren - meine Mutter, meinen Vater, meine Schwester, ein ungeborenes Kind und so manchen Freund und Nachbarn. Und immer hat mich dabei tiefempfundene Trauer erfüllt.
Aber das hier war anders, ganz anders. Die hier empfundene Trauer hat ein Maß, dass das menschlich Erfassbare weit überschreitet. Es gab für mich nichts anderes mehr als genau diese Trauer, nichts anderes existierte mehr.
Und so hatte ich vor dieser Trauerfeier große Angst. Ich hatte Angst vor der Unermeßlichkeit meiner Trauer, aber auch Angst vor der Rede und Angst vor den vielen Menschen.
Als Flo und Lisa mich holten, ging es mir richtig schlecht - seelisch wie körperlich. Ich war auch noch nicht ganz fertig mit allem und es herrschte große Hektik, weil man zu diesem Anlass einfach nicht zu spät kommen darf. Vielleicht war es gerade diese Hektik, die meine innere Mauer einriss. Keine Zeit mehr, los! Auf gehts!
Bei der Kirche angekommen schnürte es mir den Hals zu als ich die vielen Menschen sah. Gleichzeitig spürte ich aber auch Dankbarkeit dafür, dass so viele Menschen von Andrea Abschied nehmen wollten. So viele Menschen, so viele!
Vor dem Betreten der Kirche spürte ich einen großen inneren Widerstand. Ich wollte nicht hineingehen, ich konnte nicht. Es war doch alles falsch! Das kann doch nicht die Wirklichkeit sein! Gleichzeitig war ich nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen und plötzlich war die Schwelle überschritten. Ich weiß nicht, wieso, aber drinnen ging es mir ein klein wenig besser. Obwohl ich lieber am Rande gesessen hätte, setzte ich mich ganz nach vorne in die Mitte, denn ich spürte, dass dies mein Platz ist. Vor mir war Andreas Foto, sie war von der Krankheit gezeichnet, aber doch ging von ihrem Bild Freude und Würde aus. Ein ganz leichtes Lächeln, so voller Hoffnung.
Der Pfarrer sprach die ersten Worte, von denen ich kaum etwas hörte, weil ich tief in mir gefangen war. Es gab kein Halten mehr, alles brach plötzlich aus mir heraus und ich schäme mich dafür nicht. Es ist alles Realität, es passiert wirklich, es IST bereits passiert! Es war mir als würde ein weiterer Teil meiner Seele aus mir gerissen.
Dann hörte ich den Chor Regenbogen. The Rose - es war so unendlich schön! Sooo schön! Und gleichzeitig so furchtbar. Was für ein Widerspruch! So schöner Gesang in diesem einen Moment, den ich niemals hätte erleben wollen. Jetzt, wo ich darüber schreibe, erlebe ich es zum zweiten Mal. All die Gefühle aus diesem Moment sind wieder präsent und alles geschieht wieder.
Dann war es Zeit für meine Worte und während ich sprach, war die Welt in mir eine andere. Für einen Moment gab es nur noch die Worte und mich und sonst nichts. Als ich geendet hatte, traf mich die Trauer wie ein Faustschlag und ich taumelte, aber jemand hielt mich. Jemand umarmte mich und ich sah in glänzende Augen. Man fing mich auf und gab mir neue Kraft.
Dann sprach Albert Schäfer. Ich wusste, dass Andrea in sehr vielen Vereinen aktiv gewesen ist, aber dass es so viele waren, das ahnte ich nicht. Die Liste schien kein Ende zu nehmen und mir wurde plötzlich bewusst, wie viele Spuren Andrea hinterlassen hat. Dieses Leben war wahrhaftig nicht vergeudet! Dass es so plötzlich enden musste, werde ich niemals begreifen können.
Andreas Lieder trafen mitten in mein Herz. "Money, money, money" war ihr Klingelton auf ihrem Handy. Money, Geld waren tatsächlich wichtig für Andrea, aber nicht als Selbstzweck. "All the things I could do" heißt es in diesem Lied - es geht um all die Dinge, die man mit Geld machen kann. Geld kann man spenden, man kann damit sinnvolle Projekte unterstützen, man kann Gutes damit tun. Und je mehr Geld man hat, desto mehr Gutes kann man tun.
"County Roads" war die Hymne des Bundes zwischen Andrea und ihrer Schwester Carola und mir. Oft saßen wir zu Dritt im Garten oder in der Küche und schwätzen und tranken Bier und Schnaps und sangen dieses Lied. Es hat uns miteinander verbunden und das macht es nun immer noch.
"Der Weg" von Herbert Grönemeyer beschreibt Andrea perfekt. Es ist das Lied ihres Lebens, ihres Kampfes und ihres Todes.
Es muss an diesem Tag sehr heiß gewesen sein. Aber als wir auf dem Weg zum Grab waren, habe ich davon nichts gespürt. Ich habe gar nichts gespürt. Das einzige, das ich wahrnahm, war die Anwesenheit des Pfarrers - und auch das nur verschwommen und schemenhaft. In mir war nichts mehr, ich war nur noch eine leere Hülle. Viele Menschen folgten uns, das spürte ich, aber es drang nicht in mein Bewusstsein, denn das war nicht mehr vorhanden.
Als wir oben am Friedbaum angekommen waren, kam ich wieder zu Bewusstsein. Mit einem Mal spürte ich die Hitze, sah die vielen Menschen, Flo und Lisa, die Eltern, die Familie. Und plötzlich wurde mir klar, was hier gerade geschieht und mein Herz zog sich zusammen, war nur noch ein lebloser Fleischklumpen. Alles in mir verkrampfte sich, lehnte sich auf und alles in mir flehte danach aufzuwachen, endlich aufzuwachen aus diesem furchtbaren Alptraum! Aber der Alptraum endete nicht. Im Gegenteil - es war erst der Anfang.
Schließlich wurde die Urne beigesetzt. Der Pfarrer deutete mir an, dass ich etwas zu tun hätte. Aber was? Was soll ich denn machen? Ich bin doch gar nicht mehr da! Ich bat Flo um Hilfe und er rettete mich auch hier. Ich tat es ihm gleich und vergaß im selben Augenblick, was es war. Mein Bewusstsein verabschiedete sich erneut und ich kam erst wieder einigermaßen zu mir als ich im Gemeindehaus saß und einen Kaffee vor mir sah.