Danach

Im ersten Monat nach Andreas Tod habe ich nicht gelebt. Ja, ich habe zwar existiert, aber Leben ist etwas ganz anderes.

 

Am Abend nach diesem furchtbaren Ereignis war ich mit Flo und Lisa zusammen und ich habe bei den beiden übernachtet, weil ich es nicht ertragen hätte, in meinem traumatisierten Zustand alleine zu sein. Ich war zu diesem Zeitpunkt psychisch labil und wollte kein Risiko eingehen. Die Familie Platz schenkte mir in der ersten Nacht Schutz und Trost.

Obwohl ich noch lange würde keinen klaren Gedanken fassen können, so erkannte ich am nächsten Morgen doch, dass ich zurück in das Haus musste, in dem Andrea gelebt hat. Hätte ich damit gezögert - das wurde mir in diesem Moment klar - dann wäre ich nie wieder dorthingegangen. Andrea hat aber gewollt, dass ich dort bin. Also habe ich mich dem gestellt.

 

Das erwies sich als überaus schwierig, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, das Haus und der Garten seien mir gegenüber feindselig eingestellt. Als ich das erste Mal alleine im Garten stand war es mir als flösse in meinen Adern flüssiges Blei. Der Magen krampfte sich zusammen und ich spürte eine Mischung aus Trauer, Wut, Verzweiflung und Ohnmacht in mir. Ich hatte Fluchtgedanken, ich wollte plötzlich aus allem nur noch raus. Raus und weg, fort von diesem schrecklichen Ort!

 

Ich hätte fliehen können.

Aber ich wollte nicht.

Ich ahnte, dass wenn ich fortgehen würde, es weiter in mir lauern würde und eines Tages käme es und dann könnte mich vielleicht nicht dagegen wehren. Nein, ich musste den harten Weg gehen. Ich musste jetzt alles auf mich nehmen, jetzt alles ertragen was da kommen möge. Ich musste hindurchgehen durch das tiefe Tal und das Tor der Trauer, so schwer es auch sein mag.

Jeder Tag war eine neue Herausforderung, jeder Tag forderte aufs neue Überwindung und Kraft, jeden Tag kämpfte ich gegen die Dämonen in mir. Und sie verschwanden nicht, es ließ einfach nicht nach.

 

Dann begann die Zeit der ersten Gespräche. Pfarrer Leissler, Ute Wissner, Karl-Eberhard Pfeiff. Und diese Gespräche offenbarten mir, dass in mir mehr ist als nur diese Dämonen. Ich konnte zum ersten mal so etwas wie Hoffnung spüren, einen kleinen schwachen Trost. Das gab mir schließlich die Kraft, weiterzumachen, ja, weiterzuleben. Nach und nach ging es mir mit allem etwas besser. Alles war weit davon entfernt, "gut" zu sein, aber es wurde doch besser.

 

Mittlerweile las ich die Trauerkarten. Es waren schöne Worte dabei, ich empfand tief empfundene Anteilnahme, las tröstende Worte und Worte voller Hoffnung und auch Worte der Liebe. Ich war dankbar für jede einzelne Karte, ganz ehrlich! Aber jede dieser Karten führte mir Andreas Tod vor Augen. Beim Lesen  jeder dieser Karten weinte ich bittere Tränen - und es waren viele Karten, sehr viele.

Ich gab die Karten dann Florian, auch er sollte alles lesen. Er brauchte lange dafür, was ich gut verstehen kann. Ich bekam sie im Dezember zurück und nun gehen sie erstmal an Andreas Eltern und an ihre Schwester. Wenn die Karten dann zurück sind, wird alles seinen Platz finden.

 

Nach einem Monat zwang ich mich dazu, wieder zur Arbeit zu gehen und das war auch eine richtige Entscheidung. Die Arbeit gab meinem Leben die Struktur, die ich so dringend brauchte. Die Arbeit war ein Gegenpol zur Trauer. Man begegnete mir ganz normal als sei nichts geschehen, aber ich wusste, dass es alle wussten. Ganz zu Anfang war es für alle sicher recht schwierig, aber meine Kollegen haben sich tapfer geschlagen und kaum jemand hat sich etwas anmerken lassen. So nach und nach konnte ich mich wieder integrieren und nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung konnte ich auch wieder produktiv arbeiten.

 

Als ich wieder arbeitete begann ich auch, wieder unter Leute zu gehen. Der Besuch einer SPD-Veranstaltung war ein Test, der erfolgreich verlief. Es hatte mich eine extrem hohe Überwindung gekostet, aber in Summe hinterlies es ein positives Gefühl - zumal es zu der Begegnung mit Karl-Eberhard geführt hat.

 

Also besuchte ich die AWO-Matinee im Burggarten. Auch das kostete mich eine sehr große Überwindung. Ich hatte Angst vor den Begegnungen und Blicken. Aber ich wusste, dass genau das ein sehr wichtiger Punkt war: Ich wollte, dass die Menschen mich sehen. Ich wollte, dass sie sehen, dass ich lebe und da bin und nicht aufgebe. Ich wollte es ertragen oder zumindest lernen, es zu ertragen.

Der Burggarten war voller Menschen und alle Plätze schienen besetzt, aber bei Gerhard Koch war ein Platz und ich setzte mich zu ihm und wir schwätzten kurz. Rudolf kam später noch dazu, was mich freute.

Nachdem es geendet hatte, gingen alle Leute fort und Gerhard begann damit, die Tische und Stühle zusammenzuräumen - er ganz alleine und soviel zu tun, das geht ja mal gar nicht! Also hab ich angepackt und mitgeräumt. Das hat ihn offensichtlich gefreut, was dann natürlich mich wiederum gefreut hat. Es ist gut, eine Aufgabe zu haben!

 

Dann kam der autofreie Sonntag. Ich hatte angeboten, für den Verkehrsverein an der Kasse zu sitzen und davor hatte ich große Angst, weil ich davon ausgehen musste, dass ich vielen Menschen begegnen würde. Aber genau das wollte ich im Grunde auch. Ich wollte mich nicht verstecken, sondern langsam wieder einen Zugang zur Welt finden. Es ging ruhig los, aber schließlich kam es doch zu einem gewissen Andrang. Einige kannten mich aus der Kirche und sprachen mich auf die Rede an. Andere sprachen mich auf Andrea an. Aber es ging, ich konnte es ertragen, es aushalten.

Ich bemerkte Anne, die für die Blauen Raben Getränke verkaufte und ich realisierte, wie sie mich sehr lange anblickte - ich würde zu gern wissen, was in diesem Moment in ihr vorging.

Als die Dienstzeit endete habe ich noch ein wenig weitergemacht, weil es mir plötzlich einfach Spaß gemacht hat. Ich bin, glaube ich, an diesem Tag der Normalität ein Stück weit nähergekommen. Dann hat Ute mich von Dienst entbunden und ich hab mich auf die Suche nach Conny gemacht, weil ich sie vorher gesehen und noch Lust auf ein bis fünf Bier hatte. Aber ich fand sie nicht, stattdessen volle Tische und kein Platz zum Setzen. Also bin ich nachhause gegangen und dabei spürte ich, wie die Leere in mir sich wieder bemerkbar machte.

 

Nebenbei hatte ich in der Zwischenzeit damit begonnen, all die vielen Dinge zu klären, die es zu klären galt. Welche Konten gibt es, welche Verträge? Ich musste mit Banken in Kontakt treten, mit Versicherungen, den Versorgern, der Gemeinde und unzähligen Instanzen mehr. Termine, Mails, Briefe, Formulare. Und was für Formulare! Ich war lange lange Zeit damit beschäftigt. Während all dieser Zeit blieb wenig Platz für Gedanken, wenig Platz für Trauer. Monate vergingen so.

 

Dann, ja, mit einem Mal war es vorbei. DIe Konten waren geklärt, die Versicherungen umgeschrieben, der Erbschein beantragt. Und plötzlich hatte ich Zeit. Und plötzlich kamen sie wieder, diese Dämonen. Es traf mich wie ein Faustschlag und ich war wieder gefangen in meiner persönlichen Hölle.

Ich habe mich lange gefragt, was ich tun kann. Professionelle Hilfe wäre eine Option, kam mir aber irgendwie falsch vor. Stattdessen entschied ich mich dafür, das was in mir ist, niederzuschreiben. Wenn ich das mache, dann ist es nicht mehr nur in mir, sondern auch außen und vielleicht hilft mir das, es für mich bewerten und sortieren zu können. Deswegen entsteht dieser Internetauftritt.

 

Das Aufschreiben bedeutet, dass ich mich erinnern muss. An all die schrecklichen Dinge, die Chemo und die Bestrahlung, die letzte Woche und - vor allen Dingen - der Tod. Und so erlebe ich unsere letzte Woche wieder und wieder. Und wieder und wieder sehe und höre ich Andreas verzweifelten Versuch zu leben und dann den letzten Atemzug. Und jedes Wiedererleben ist weitaus schlimmer als zuvor, eben weil es WIEDER passiert und weil ich vorher weiß, wie es enden wird - und das ist das Schlimmste überhaupt.

 

Nun habe ich schon ganz viel geschrieben, vieles ist aus mir heraus. Ich konnte es zulassen, auch wenn es mich fast zerrissen hätte. Und nun hoffe ich, dass meine geschundene Seele langsam wird heilen können.