Begegnungen

Nach Andreas Tod bin ich vielen Menschen begegnet. Menschen, die ich kannte oder nicht kannte, bei einigen kannte ich die Gesichter, aber nicht die Namen und bei anderen verhielt es sich umgekehrt. Diese vielen Gesichter und Namen habe ich noch nicht verinnerlicht, noch nicht in mir verfestigen können und ich möchte um Verständnis bitten, denn es wird immer wieder vorkommen, dass ich Gesichter und Namen nicht weiß oder - noch schlimmer - durcheinanderbringe. Das ist keine Absicht, kein böser WIllen und kein Desinteresse - sondern einfach zuviel. Nach und nach wird sich sicher alles in mir verfestigen.

 

Bei diesen Begegnungen erfahre ich erstaunlicherweise die unterschiedlichsten Reaktionen, über die ich sehr viel nachgedacht habe.

 

Es gibt Menschen, die Brücken bauen und mir ganz offen und unvoreingenommen begegnen. Darunter gibt es auch Menschen, die mir das Gefühl geben, gut aufgehoben und willkommen zu sein. Menschen, die Herzlichkeit ausstrahlen.

Euch allen gilt mein Dank.

 

Aber es gibt auch Menschen, die sich von mir abwenden und wenn ich ihnen begegne, dann sehe ich in vorwurfsvolle Gewichter. Man wirft mir vor, zu leben. Man meint, es sei der falsche Mensch gestorben. Ich anstelle von Andrea hätte auf dem Friedhof liegen sollen.

Allen, die so denken, sage ich: Ja, ihr habt recht! Ihr habt recht! Ich habe Gott angefleht, mein Leben zu nehmen und das von Andrea zu schonen, aber mein Flehen wurde nicht erhört. Ich bin zum Leben verurteilt und ich habe mir das NICHT ausgesucht.

 

Ich hatte eine ganz besonders schöne und für mich sehr wichtige Begegnung. Etwa drei Wochen nach der Beisetzung veranstaltete die SPD einen Informationsabend in der Lumdatalhalle und ich wollte diesen Anlass dazu nutzen, aus meinem Gefängnis auszubrechen. Es kostete  mich unendlich viel Kraft, aber schließlich konnte ich mich doch überwinden und als ich dann auf der Straße lief, war ich froh darüber. Nachwievor hatte ich Angst vor den wohl bevorstehenden Begegnungen. Tatsächlich gab es Blicke. Blicke, die mich erfreuten aber auch Blicke, die schmerzten. Nach der Veranstaltung ging es mir für einen Moment sehr gut, weil ich es zum ersten Mal geschafft hatte, unter Menschen zu gehen, es war ein Fortschritt und wichtiger Meilenstein. Aber als ich wieder zuhause war, verließ mich meine Kraft und ich fühlte mich unendlich erschöpft - so erschöpft, dass ich mich bei dem Gedanken ertappte, mein sinnlos gewordenes Leben aufzugeben und einfach zu Andrea zu gehen. Warum denn auch nicht? Was sollte ich hier denn noch? Dieser Gedanke wurde immer mächtiger und verlockender, als es plötzlich an der Tür klingelte. Nanu? Ich war total verdutzt, öffnete dann aber die Haustür.

Vor mir stand Karl-Eberhard Pfeiff.

Das Gesicht kannte ich, den Namen aber nicht, ich wusste zu diesem Zeitpunkt nur, dass er auch auf der SPD-Veranstaltung gewesen ist. Er ging auf mich zu, drückte mir die Hand und umarmte mich. Er bedankte sich bei mir dafür, dass ich bei der Veranstaltung war und es geschafft habe, so schnell wieder unter die Leute zu gehen. Ehrlich gesagt hat mich diese Begegnung sehr verwirrt. Aber es hat mich von Herzen gefreut. Karl-Eberhard, Du hast einen Freund! Und vor allen Dingen: Du hast mir die Kraft gegeben, weiterzuleben. Karl-Eberhard, ich verdanke Dir sehr viel - und vielleicht sogar mein Leben.

 

Ich erinnere mich an eine weitere für mich sehr wichtige Begegnung, ganz kurze Zeit später. Mit Andrea verbinde ich sehr viele Namen. Aber der Name, der - laut meiner Erinnerung - am meisten genannt worden war, ist: Ute Wissner. Ute war ein wichtiger Teil von Andreas Leben und ich bat Ute daher um ein Treffen, denn ich wollte diesen Teil von Andreas Leben gerne ein klein wenig kennenlernen. Als wir uns dann begegneten, nun, ich glaube wir hatten beide wohl etwas Angst voreinander. Ich hatte wohl befürchtet etwas zu erfahren, das ich nicht hätte hören wollen und Ute war wohl besorgt darüber, wie ich denn wohl sein und reagieren würde - zumal die Trauer ja auch einiges verändert. Aber es entwickelte sich ein offenes und herzliches Gespräch, an das ich auch heute noch gern zurückdenke. Danke, Ute!