Unsere gemeinsame Geschichte

Der Anfang

Es war im Jahr 2002. Nach meiner gescheiterten Ehe habe ich versucht, mein Leben neu zu orientieren. Ich bin durch das Internet gewandert, um Impulse und Möglichkeiten zu sammeln. Ich habe damals verschiedene Foren und Communites ausprobiert, habe allerdings die meisten recht schnell wieder verlassen. Aber in einem dieser Foren blieb ich "kleben".

Das Thema des Forums ist dabei irrelevant. Wichtig zu wissen ist aber, dass es von verschiedenen Personen dominiert wurde. Diese Personen ließen es nicht zu, dass man sich in sinnvoller Art und Weise austauschen konnte. Immer wieder wurde gestört und man stellte sich selbst in den Vordergrund.

Dabei ist mir aufgefallen, dass es dort auch jemanden gab, der nicht müde wurde, dem entgegenzuwirken. Dieser Mensch brachte sich ein, übernahm Verantwortung und suchte nach Ausgleich. Und das fand ich vorbildlich und ich begann, in dieser Sache mitzuwirken und diesen Menschen zu unterstützen. Die Art, wie wir das machten, war höchst unterschiedlich, aber wir merkten schnell, dass wir uns perfekt ergänzen. Wir erarbeiteten uns einen gegenseitigen Respekt und eine Hochachtung, die uns aufeinander neugierig werden ließ.

 

Dieser Mensch war Andrea.

Im Sommer 2003 verabredeten wir uns und ich fuhr mit der Bahn von Hamburg nach Gießen, wo sie mich am Bahnhof erwartete. Wir waren einander sofort sympathisch, aber dass eine Beziehung und schließlich eine Liebe daraus werden würde, hätte ich zu diesem Zeitpunkt niemals vermutet - immerhin sind 420 Kilometer eine viel zu große Entfernung. Und so gingen wir wohl beide davon aus, dass es eine mehr oder weniger einmalige Begegnung bleiben würde. Wir verbrachten einen schönen Nachmittag zusammen und führten ein wunderbar tiefgründiges Gespräch. Am Abend fuhr ich dann wieder nachhause und ich erinnere mich noch, dass ich dabei sehr nachdenklich und irgendwie auch ein klein wenig traurig war.

 

Es verging nicht viel Zeit, es mögen zwei Wochen gewesen sein, da lud Andrea mich zu sich nachhause ein. Sie hat damals noch unten in dem alten Fachwerkhaus gewohnt. Ehrlich gesagt hatte ich nicht die allergeringste Lust, schon wieder so weit zu reisen. Dennoch habe ich keine Sekunde gezögert und habe spontan zugesagt. In der Zwischenzeit haben wir auch einige Telefonate geführt und bei einem dieser Telefongespräche hörte ich ihren Sohn Florian im Hintergrund singen. Die Ehe, der ich entflohen war, war geprägt von Enge, von Verboten und Regeln und Strafen, von Unfreiheit. Nun nun hörte ich einen jungen Menschen, einen Sohn, der einfach nur gute Laune hatte und sang - das hat mich so angerührt und das war das komplette Gegenteil von dem was ich kannte, so dass ich mich plötzlich mit allem wohlfühlte und ich ebenso plötzlich deutlich spürte, dass hier etwas Großes am Entstehen sein könnte.

 

Diesmal fuhr ich mit meinem Laguna direkt nach Rabenau und wir trafen uns an der Apotheke. Ich blieb ein Wochenende und dieses Wochenende hat mein Leben verändert. Es war ungewiss, wie es wohl weitergehen könnte und ob die Entfernung nicht doch alles kaputtmachen würde. Aber es gab einen Anfang für uns beide. Das war ein sehr glücklicher Moment, ich weiß es noch genau.

Die Öffnung

Wir schafften es nach einer Weile, einen regelmäßigen Besuchsrhythmus zu etablieren. Wir besuchten uns alle zwei Wochen gegenseitig - Andrea fuhr zu mir nach Hamburg und zwei Wochen später fuhr ich dann zu ihr. Auf diese Weise konnten wir uns regelmäßig begegnen, wir hatten aber auch immer ein Wochenende für uns selbst, um all die Dinge erledigen zu können, die in der Woche liegengeblieben waren.

 

Dann begannen die Mails.

Ich schrieb ihr jeden Morgen eine Mail und Andrea antwortete einige Stunden später. Diese Mails wurden länger und länger. Und in diesen Mails drangen wir beide in unsere Herzen und unsere Seelen ein und all das, was wir dort fanden, teilten wir einander mit. Das waren nicht nur schöne Dinge, aber wir schonten einander nicht. Wir erfuhren Dinge übereinander, die verborgen bleiben müssen. Wir erkannten die dunklen Dinge in uns. Dieses tiefgehende gegenseitige Erkennen und dieser intensive furchtlose Austausch hat eine Verbundenheit geschaffen, die ich in einer solchen Dimension vorher noch nie erlebt hatte.

So mag es gerade die Entfernung voneinander gewesen sein, die uns einander so intensiv mitteilen ließ. Wir hatten keinen gemeinsamen Alltag, dafür hatten wir unsere Mails und unsere Wochenenden.

Abends trafen wir uns außerdem täglich für ein bis zwei Stunden in einem Chat. Während wir morgens per Mail die wichtigen und tiefgehenden Dinge austauschten, war es Ziel des Chats, einfach miteinander zu schwätzen, Spaß zu haben und zusammen zu blödeln. Insofern haben sich Mails und Chat sehr gut ergänzt.

Die Ankunft

Es dauerte nicht lang und ich begann, mich bei Andrea in Rabenau wohlzufühlen.

Ich lernte ihre Familie kennen und vor dieser Begegnung hatte ich Angst. Aber ich wurde einfach willkommen geheißen und es schien ganz normal zu sein, dass ich plötzlich dabei war. Vätchen, Möni, Carola und ihre Kinder - hey, ich hatte plötzlich eine Familie! Das war damals für mich durchaus gewöhnungsbedürftig, denn ich war wohl alles andere als ein Familienmensch. Aber wenn ich nun an diese Menschen denke, dann wird mir warm ums Herz und ich freue mich, dass es alle diese Menschen gibt.

Auch die anderen Menschen und die Vereine haben mir ein gutes Gefühl gegeben. Die Anonymität einer Großstadt hat durchaus Vorzüge - man kann machen, was man will und niemanden kümmert es. Gleichzeitig habe ich erfahren, dass das Leben in einem dörflichen Umfeld eine andere und bessere und intensivere Qualität hat.

Ich spürte irgendwann, dass ich in Rabenau tatsächlich angekommen war und seit diesem Zeitpunkt fand ich es immer irgendwie richtiger, zu Andrea zu fahren als dass sie zu mir fährt. Aber ich wusste auch, dass dieses gelegentliche "Rauskommen" für sie wichtig war.

Die Verfestigung

Im Laufe der Zeit wurde unsere Fernbeziehung immer normaler. Ich habe durchaus versucht, hier in der Gegend eine Anstellung zu finden, habe aber nie etwas Passendes finden können - und ich war hinsichtlich des Gehalts bei meinem Arbeitgeber durchaus ein wenig verwöhnt, das muss ich zugeben und ich war damals nicht geneigt, hier wesentliche Abstriche zu machen. Daraus entwickelte sich der Plan, eines Tages bei Eintritt der Rente, zu Andrea zu ziehen. In diesem Punkt waren wir uns einig und bis dahin wollten wir weiter unsere Fernbeziehung führen.

 

Unser Leben ging weiter, wir planten und verbrachten gemeinsame Urlaube, Ostern und Weihnachten und wir waren immer beieinander, wenn es denn nur möglich war. So vergingen unsere ersten gemeinsamen Jahre.

 

Die Trennung

Dann erfuhr unsere Beziehung eine Krise.

Ich weiß heute gar nicht mehr, wie es genau dazu kam. Ich glaube, es hat etwas mit einem Ikea-Besuch zu tun und mit dem Sohn, der sich mit seinen Freunden für eine Nacht im Wohnzimmer einquartiert hatte. Was auch immer der Auslöser gewesen sein mag - mit einem mal konnten wir einander nicht mehr ertragen. Wir haben uns sehr laut und kontrovers gestritten und es gab keine Einigung, jeder beharrte auf dem eigenen Standpunkt, wir waren unversöhnlich. Ich bin dann nach Hamburg gefahren und es gab keinen weiteren Termin für einen Wochenendbesuch. Es gab morgens keine Mail mehr, zwischen uns war Schweigen.

 

Aber dann begegneten wir uns abends doch wieder in diesem Chat. Auch wenn wir verstritten waren - wir konnten voneinander nicht lassen! Und plötzlich konnte jeder von uns wieder auf den anderen zugehen und so schafften wir es, unsere Krise zu meistern und wieder zueinander zu finden. Und so ging es weiter mit den Mails, dem Chat, den Besuchen.

Damals fuhr ich noch den Laguna, es ist also schon sehr lange her.

Die Sicherheit

Es folgten dann Jahre, in denen uns immer bewusster wurde, dass wir füreinander bestimmt sind. Aus diesem Bewusstsein erfolgte eine innere Sicherheit, die negativen Gefühlen wie etwa Eifersucht keinen Platz ließ.

 

Viele Beziehungen und Ehen funktionieren, aber die Partner harmonieren fast immer nicht perfekt miteinander. Denn es ist sehr schwer und äußerst unwahrscheinlich, dass man wirklich seinen Menschen findet - den Menschen, der einen in jeder Hinsicht ergänzt.

Als ich erkannte, dass ich mit Andrea diesen meinen Menschen gefunden hatte, den Menschen, der mich vollständig macht, habe ich Andrea gefragt, ob sie mich heiraten will. Vermutlich war die Frage ziemlich unromantisch, aber es musste einfach raus. Andrea hat ein paar Tage in sich hineingehorcht und sie muss dabei zum selben Schluss gekommen sein wie ich und hat eingewilligt.

Am 24.10.2013 haben wir auf dem Londorfer Standesamt geheiratet. Jens Ulmers war dabei und hat Fotos gemacht. Gefeiert haben wir im Anschluss im engsten Familienkreis.

Die Gegensätze

Es war unsere unterschiedliche Art, die unsere Beziehung zu etwas ganz Besonderem machte. Antrea war extrovertiert, sie ging in die Welt hinaus - ich war introvertiert und blieb lieber für mich. Wenn Andrea etwas haben wollte, dann kaufte sie es sich einfach - ich las vorher erst einmal Testberichte. Andrea wollte Entscheidungen treffen - ich wollte die Zusammenhänge erforschen, um die Grundlagen einer Entscheidung zu finden. Wir waren wie Yin und Yang, wir ergänzten uns, waren zusammen eine Einheit und das machte uns zu einem unschlagbaren Team.

Manchmal war es richtig, sofort eine Entscheidung zu treffen und manchmal war es richtig, in Ruhe alle Optionen abzuwägen. Und so konnten wir voneinander lernen. Ich lernte mit der Zeit, mich zu öffnen und aus mir herauszugehen und Andrea lernte, auch in sich selbst hineinzuhören. Und so blieben wir zwar gegensätzlich, erfuhren aber gleichzeitig die jeweils andere Seite in uns. Das machte alles noch viel perfekter. Unsere Gegensätze ergänzten sich auf eine einmalige Weise und zusammen waren wir die ultimative Einheit.

Das Haus

In unserem Urlaub in Göteborg, es war wohl das Jahr 2008, da fragte mich Andrea, ob mein Leben ein bestimmtes Ziel hat, ob es etwas gibt, dass ich unbedingt erreichen möchte. Ich hab lange darüber nachgedacht, konnte ihr aber keine konkrete Antwort geben. Ich hatte nie ein bestimmtes  Ziel - außer dass ich viel reisen und viel von der Welt sehen wollte. Ich fragte dann nach ihren Zielen und Andrea antwortete, dass sie sich ein Haus wünscht und einen Garten, in dem sie machen kann was sie will.

Haus und Garten waren zeitlebens kein Ziel von mir - alleine weil ich davon ausging, dass das alles viel zu teuer sein würde. Und ich bin auch kein Gartenmensch. Aber dennoch - je länger ich darüber nachdachte, desto mehr gefiel mir der Gedanke. Zu zweit ist ja alles leichter als alleine und hier in dieser Gegend sind Immobilien zudem nicht so teuer wie im städtischen Umfeld. Also machte ich mir Andreas Ziel zueigen.

 

Wir haben lange gesucht, viele Jahre. Wir haben uns Häuser angeschaut in Londorf und Rüddingshausen und auch an anderen Orten in der Nähe, aber in Rabenau bleiben wollten wir eigentlich schon. Die Häuser waren entweder zu teuer oder so alt, so dass man noch hätte große Summen hineinstecken müssen und in einem Haus war wohl auch der Hausbock, das war uns viel zu riskant.

Schließlich machte unser Vermieter das überraschende Angebot, das Haus in dem wir wohnten, an uns zu verkaufen. Yeah! Der Garten ist groß und wir fühlten uns hier wohl und die Nachbarn sind auch alle nett - es passte! Nur der Preis passte nicht, aber wir konnten uns schnell einigen und die Kreditzusage erhielten wir völlig unproblematisch. Am 21. November 2014 unterschrieben wir den Kaufvertrag.

 

Dann begann die Zeit der Renovierung. Am allerwichtigsten war die Elektrik. Dauernd flog oben die Sicherung raus, wenn man unten einen Verbraucher zuviel hinzuschaltete und die Küchenwand erwärmte sich dramatisch, wenn an der Dreiersteckdose an der Wand tatsächlich drei Geräte hingen. Es war nur eine Frage der Zeit bis irgendwo ein Brand ausbrechen würde. Also mussten alle Leitungen im Haus ersetzt werden. Die Wände mussten aufgestemmt werden, damit neue moderne Leitungen verlegen werden konnten. Sowas konnten wir nicht selbst machen, wir holten uns Hilfe. Es war eine Zeit voller Schutt und Dreck im Haus und inbesondere das Erdgeschoss war zeitweilig völlig unbewohnbar. Wie lange mag das gedauert haben? Ein halbes Jahr mindestens.

Nach der Elektrik war es die Heizung, die erneuert werden musste. Für die alte Heizung gab es keine Ersatzteile mehr und alles war nur noch provisorisch zusammengeflickt und der Heizölverbrauch war enorm. Dann wurden fast überall neue Fenster eingebaut. Anschließend haben wir die Wohnung oben renoviert und unten wurden neue Böden verlegt. Irre viel Arbeit und irre viel Dreck, aber irgendwann war es fertig und wir hatten dann ein ganz neues und sehr viel schöneres Wohngefühl.

Eigentlich hätten wir die Abwasserleitung im Keller noch erneuern wollen, weil es an dieser Leitung eine Stelle gibt, die verdächtig aussieht und wir hatten den Eindruck, dass hier langfristig ein Leck entstehen könnte. Aber man warnte uns und sagte, dass es sein könne, dass das Rohrsystem insgesamt beschädigt wird, wenn dieses Teilrohr ausgetauscht würde. Also ließen wir es so, denn für weitere große Renovierungen fehlten uns die Mittel.

Die Veränderung

Es vergingen weitere Jahre, die wir gemeinsam verbrachten und nachwievor trennte uns die große Entfernung. Gemeinsam entdeckten wir unsere Liebe zur See und wir unternahmen eine ganze Reihe von Kreuzfahrten. Wir waren auf dem Mittelmeer und der Ostsee, in Norwegen und Spitzbergen und Island, in den arabischen Emiraten und im Oman, in Gibraltar, Tunesien und Marokko und an vielen anderen Orten.

 

Dann passierte etwas in meinem Leben, auf das ich an dieser Stelle nicht näher eingehen möchte. Mein bisheriges Leben war in sich kollabiert und in dieser Zeit war ich am Boden zerstört. Doch Andrea schaffte es, mir Kraft, Mut, Hoffnung und Zuversicht zu geben, so dass ich in der Lage war, mein Leben in Hamburg zu beenden und zu ihr zu ziehen. Es war für uns beide ein gewaltiger Kraftakt und wir beide hatten ein klein wenig die Befürchtung, dass wir ein ständiges Beisammensein womöglich nicht würden ertragen können. Es ist schon etwas völlig anderes, einen gemeinsamen Alltag zu haben als wenn man sich nur alle zwei Wochen sieht und diese Begegnungen dann immer etwas ganz besonderes sind.

Aber diese Befürchtung hat sich nicht bestätigt, im Gegenteil lernten wir sehr schnell, miteinander zu leben. Jeder von uns musste sich ein klein wenig zurücknehmen - alleine schon aus Platzgründen. Aber es hat alles ganz wunderbar funktioniert.

Die beste Zeit

Ja, dann begann unsere beste Zeit. Es gab keine Entfernung mehr, die uns voneinander trennte. Wir rückten noch näher zusammen und inzwischen hatte ich hier auch einen idealen Job gefunden. Alles war perfekt und es schien so, als wären wir am Ziel angekommen.

Im Sommer waren wir in Dresden und im Herbst an der Nordsee, in Norddeich. Wir waren auf dem Deich, haben Möven beobachtet und uns dem Wind hingegeben. Es war alles gut und alles hätte genau so weitergehen sollen.

Die Prophezeiung

Im Laufe der Jahre sind immer mal wieder Menschen aus unserem Umfeld gestorben, die meisten von ihnen an Krebs. Und immer wieder meinte Andrea dann zu mir, dass die Einschläge immer näher und näher kämen und es wohl nur eine Frage der Zeit wäre, bis es einen Volltreffer geben würde.

 

Zuletzt starb unser Nachbar Hartmut. Ich kannte ihn kaum, aber er und seine Frau Irene waren einigemale bei uns im Garten. Ich habe schnell erkannt, dass Hartmut und ich seelenverwandt sind. Wie ich redete er wenig. Er trank sein Bier und war irgendwie mit sich und der Welt zufrieden, das hat mir außerordentlich gut gefallen und ich habe ihn sehr gemocht.

 

Dieser Einschlag ging uns beiden sehr sehr nahe - und das in jeder Hinsicht. Wer würde der nächste sein?

Die Krankheit

In Norddeich waren wir als Andrea mir sagte, dass sie an der Brust etwas ertastet hätte und dass sie sich Sorgen machte. Ich hab beschwichtigt, weil ich ihr Mut machen wollte - es könnte ja alles mögliche sein.

Unsere letzte Zeit in Norddeich war dann nicht mehr so unbeschwert.

 

Dann die vernichtende Diagnose: Brustkrebs! Das für sich genommen, wäre gar nicht mal so schlimm, weil der Krebs zu diesem Zeitpunkt nicht gestreut hatte und gerade Brustkrebs relativ gut therapierbar ist.

Aber dieser Krebs war anders. Es handelte sich um einen Tumor vom Typ "Triple Negativ". Das ist die aggressivste aller Tumorformen, dem zudem wichtige für eine Therapie notwendige Rezeptoren fehlen. Ein Killer-Tumor.

 

Der Einschlag.

Ein Volltreffer!

Und es begann für uns beide eine neue Zeit, denn Krebs verändert alles. Krebs stellt alles in Frage. Krebs vernichtet die Lebensplanung. Krebs kann einen so großen Raum in einem Menschen einnehmen, dass so mancher schon an der Angst stirbt. Andrea war eine Kämpferin! Sie hat sich immer allen Herausforderungen gestellt und so war es auch hier. Und doch habe ich die Angst in ihr gespürt. Sie gab sich immer optimistisch und das ist auch richtig so. Aber ich spürte, dass sich in ihr etwas verändert hatte. Ich spürte die Angst in ihr, ganz tief in ihr drin, wo sie es vor sich selbst zu verstecken suchte.

 

Aber aufgeben ist keine Option! Der Krebs sollte herausoperiert werden, aber zuvor sollte versucht werden, den Krebs durch eine Chemotherapie zu verkleinern. Andrea ist dann ab Mitte November jeden Wochentag nach Marburg gefahren, um dann dort für einige Stunden am Tropf zu hängen. Sie hat es auch vergleichsweise gut vertragen und kaum über Nebenwirkungen geklagt.

 

Als wir das erste Mal in der Marburger Uniklinik waren, es war ganz früh am Morgen, da sind wir einer Frau begegnet, die ebenfalls in Begleitung ihres Manns dort war. Wir sprachen miteinander und daraus entstand ein Kontakt, den Andrea weiterhin pflegte. Diese Frau hatte ebenfalls Brustkrebs, sie wohnt eine oder zwei Straßen über uns - aber ich kenne ihren Namen nicht. Ich hätte gern gewusst, wie es ihr wohl ergangen ist und ich hoffe von Herzen, dass es ihr gut geht!

 

Die Chemotherapie greift wachsendes Gewebe an, davon auch betroffen sind die Haarwurzeln mit der Folge, dass die Haare ausfallen. Als die Chemo begann hat Andrea sich deswegen ihre langen Haare abschneiden lassen und ich fand, dass diese neuen kurzen Haare an ihr richtig gut aussahen!

Andrea war ungeduldig. Sie wollte, dass die Haare ausfallen, denn sie wollte, dass die Chemo wirkt. Aber die Haare fielen nicht aus, sie blieben und Andrea wurde immer ungeduldiger. Schließlich begann es doch. Erst vereinzelt, dann büschelweise und dann bat sie mich, ihr Haar ganz kurz zu schneiden.

"Willst du das wirklich?"

"Klar, die fallen doch eh alle ab und lange Haare verstopfen die Dusche."

Also schnitt ich ihr die Haare ganz kurz.

Und auch das, fand ich, sah gut aus. Ich sagte ihr das, sie blickte in den Spiegel und sie lachte.

 

Nach einer Weile waren die Haare ganz weg. Andrea hatte sich vor der Chemo eine Perücke machen lassen mit einer Frisur, die der sehr ähnlich war, die sie nach den langen Haaren hatte, so dass der Unterschied wohl nicht so auffallen würde. Aber diese Perücke hat sie nie getragen - ich glaube, sie hatte immer Angst, sie könne verrutschen.

Stattdessen hat sie immer andere Kopfbedeckungen getragen. Ich persönlich fand aber ihre Glatze vollkommen okay. Ja, so kennt man sie nicht, aber verstecken muss man sich auch nicht - finde ich. Aber Krebs verändert Menschen und die Menschen verlieren ihre Unbefangenheit. Wer mag es verdenken, wenn der Tod und der Gedanke daran ständige Begleiter sind? Krebs kann ein Stigma sein und man will nicht, dass andere es erkennen. Und so war denn diese Krankheit gleich eine doppelte Last.

 

Es folgten eine Vielzahl weiterer Untersuchungen mit dem Ziel festzustellen, ob der Krebs auf andere Organe gestreut hatte. Alles sah aber gut aus und so waren wir beide voller Hoffnung.

Dann stellt sich aber doch heraus, dass Lymphknoten befallen sind.

 

Ich habe bei den Ärzten nachgefragt, ob Andreas Therapie kurativer Natur wäre, also Heilung das Ziel der Behandlung sei. Man zögerte lange mit der Antwort und sagte mir schließlich, dass wenn Lymphknoten bis maximal etwa der Brusthöhe befallen wären, eine Behandlung im kurativen Sinne möglich wäre. Bei Andrea waren es aber auch Knoten am Hals und in diesem Moment wusste ich, dass Andrea sterben würde. Aber ich dachte, es wäre noch Zeit und wir hätten vielleicht noch ein Jahr oder vielleicht sogar zwei. Ich habe nie mit Andrea darüber gesprochen, weil ich ihr den Lebensmut nicht nehmen wollte, der doch so wichtig ist. Ich wusste nicht, dass sie es bereits ebenfalls wusste.

 

Dann wurde Andrea nochmals krank - eine simple Erkältung, die eine Weiterführung der Chemo verhinderte. In der Folge mieden wir - soweit es irgend möglich war - Kontakte mit anderen Menschen, um nicht weitere Keime einzuschleppen. Niemand durfte uns mehr besuchen. Erst im nächsten Jahr konnte die Chemo endlich fortgeführt werden.

 

Die Nachmessungen der Tumorgröße waren widersprüchlich. Erst hieß es, er hätte sich um die Hälfte verkleinert, dann wieder meinte man, dass sich gar nicht verändert hätte - er also immerhin auch nicht größer geworden ist.

Im Februar wurde die Operation durchgeführt und der Krebs und die rechte Brust und die befallenen Lymphknoten entfernt. Ich habe Andrea am selben Tag noch im Krankenhaus besucht, weil die Angst mich zerfressen hatte und ich einfach wissen musste, wie es ihr geht. Als ich eintraf, war sie wach. Sie lächelte und meinte, dass sie keine Schmerzen spüren würde.

Ich besuchte Andrea jeden Tag in der Klinik. Wir gingen hinunter in die Cafeteria oder spazierten draußen ein wenig herum. Ich blieb bei ihr bis es begann, dunkel zu werden. Ich fahre ungern bei Dunkelheit mit dem Auto, besonders die Gegend beim kalten Stall ist mir nicht geheuer.

 

Ein behandelnder Arzt teilte uns mit, dass der Krebs nicht vollständig entfernt werden konnte und diese Nachricht traf uns wie ein Keulenschlag. Einige Tage später gab es Entwarnung und das Gegenteil wurde behauptet.

Es wurde eine zweite Chemotherapie durchgeführt, diesmal in Tablettenform und ich glaube, Andrea hat diese Therapie ganz gut vertragen.

 

Andrea hat ihre Kontakte immer gepflegt. SIe saß viel draußen vor dem Haus auf ihrer "Kommunikationsbank" und fast immer saß jemand bei ihr und Gespräche wurden geführt. Oft waren es die Nachbarn, Simone oder Irene oder Anne, die wohl am anderen Ende der Straße wohnt. Manchmal aber waren es Leute, die ich gar nicht kannte. Andrea hat es geliebt, auf dieser Bank zu sitzen.

Eines Tages kam sie zu mir und zeigte aus dem Schlafzimmerfenster auf ein Haus. "Da wohnt Irene", sagte sie zu mir, "da gehe ich gleich hin und ich will, dass du weißt, wo ich bin!" Andrea, und da bin ich mir ganz sicher, wollte nicht, dass ich weiß wo sie gleich sein wird. Nein, sie wollte mir zeigen, wo Irene wohnt. Sie wollte, dass wir den Kontakt aufrechterhalten. Und so ist Irene dann wohl ein Teil meines Erbes und dieses Erbe nehme ich sehr gerne an.

 

In der ganzen Zeit der Krankheit hat Andrea sich sehr intensiv damit auseinandergesetzt. Sie las Bücher und Publikationen, besuchte Foren, fragte Ärzte. Sie wollte den Feind verstehen und ihn besiegen. Zu Anfang tat ich es ihr gleich. Aber ich spürte recht schnell, dass ich ihr damit nicht helfen würde. Es war immer meine Aufgabe, für sie ein Gegenpol zu sein. Ich musste für sie Ruhe und Entspannung und Hoffnung sein und das konnte ich nicht, wenn ich Bücher und Foren las, die Schreckliches versprachen. Also habe ich nicht weitergeforscht und konnte so immer für sie da sein, wenn sie mich brauchte.

 

Dann kam die Bestrahlung.

Zuerst ging es Andrea mit der Bestrahlung recht gut. Sie meinte, man würde nichts merken. Aber im Laufe der Zeit wurde sie immer schwächer und ihre Haut auf der Brust verbrannte zusehends. Etwa vier Wochen ging das und Andrea wurde dabei jeden Tag schwächer. Ich konnte sehen, wie das Leben aus ihr wich und dieser Anblick war unerträglich.

Die letzte Bestrahlung

Ich war bei Andreas ersten Bestrahlung dabei und habe es mir auch nicht nehmen lassen, sie bei ihrer letzten Bestrahlung zu begleiten.

Und das war ein Horrorerlebnis.

 

Es begann bereits mit einer Katastrophe: Es waren mehr Autos im Parkhaus als Platz war. Ich hab gesucht und gesucht, aber es war nichts frei und es kamen immer mehr Fahrzeuge dazu, die ebenfalls keinen Platz fanden. In meiner Verweiflung bin ich wieder rausgefahren und in ein anderes Parkhaus gefahren - dort war es nicht besser. Dort habe ich dann zwar keinen regulären Platz gefunden, aber ganz am Rande direkt bei den Dornenbüschen konnte ich das Auto dann abstellen. Und bei all dem war ich in totaler Hektik, denn ich hatte Andrea vorher am Eingang herausgelassen und ich wusste doch, dass sie nicht mehr lange stehen kann.

 

Als ich endlich bei Andrea war, saß sie im Eingangsbereich und wartete. Dort kann man für zwei Euro Pfand einen Rollstuhl leihen, was ich auch tat. Ich schob sie dann zur strahlenmedizinischen Abteilung, wo wir erstmal ewig warten mussten. Als die Bestrahlung begann wartete ich darauf, dass Andrea wiederkommen würde. Und dann sah ich, dass sie wieder ein Stück schwächer geworden war. Der Anblick brach mir fast das Herz! Was ist nur aus dieser starken Frau geworden? Was haben sie nur mit ihr gemacht? Aber damit war es nicht genug - irgendwas war noch abzuklären, es sollte ein Ultraschallbild gemacht werden. Also liefen wir auf die andere Seite des Krankenhauses und warteten dann gut zwei Stunden. Als das vorüber war, schickte man uns wieder zurück. Wieder zwei Stunden Warterei. Endlich kam der Arzt und meinte, dass Andrea sicherheitshalber noch eine Woche auf der Station sein sollte. Aber Andrea war in diesem Moment so komplett fertig, dass sie nur noch rauswollte. Und ich auch. Diese ewige Warterei zermürbt, über 5 Stunden waren es! Wir waren froh, dass wir endlich wieder zuhause waren.

Die letzte Woche

Andrea wurde schwächer und schwächer und am Ende konnte sie sich kaum noch aus eigener Kraft bewegen. Sie ging davon aus, dass sie am Fatique-Syndrom leidet und sie deswegen so schwach und antriebslos sei. Und sie meinte, es sei ganz normal, dass man nach Ende einer Strahlentherapie für etwa zwei Wochen ein tiefes Tal durchschreiten muss, aber dann würde alles wieder besser. Also ging es darum, diese zwei Wochen irgendwie zu überstehen. Das war das Ziel, das ich mir auch zueigen gemacht habe. Zwei Wochen? Lächerlich! Das schafft man doch!

 

Während all dieser Zeit sind Andrea und ich jeden Sonntag nach Lollar in die Eisdiele gefahren. Sie hatte immer Spaghetti-Eis und ich meinen "Schoko Spezial". Am vorletzten Sonntag ging es nicht mehr, Andrea fehlte die Kraft.

Dafür waren Flo und Lisa an diesem Tag bei uns und haben uns Eis mitgebracht. Es hat mich sehr gefreut, aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt einfach selbst auch keine Energie mehr und habe nicht alles mitbekommen können. Später hat mir Flo erzählt, dass Andrea gesagt hat: "Nie wieder Chemo! Nie wieder Bestrahlung!", Andrea muss in diesem Moment den Lebensmut verloren haben.

 

Andrea hat für ihr Leben gerne die Soko-Serie um 18:00 Uhr geschaut. Und wir haben es jeden Wochentag gemeinsam geschaut, das haben wir uns nicht nehmen lassen. Am Donnerstag kam sie nicht mehr ins Wohnzimmer, sie hatte keine Kraft mehr und ich ahnte, dass es nun ganz schlimm werden würde, aber ich wollte es nicht wahrhaben.

 

Andrea wurde weniger und weniger. Als ich merkte, wie schwer es für sie war, unter der Dusche zu stehen, kaufte ich im Internet einen Duschstuhl und ließ ihn per Eillieferung kommen, am nächsten Tag traf er ein. Andrea hat sich riesig darüber gefreut, aber sie hat ihn nie benutzt. Sie konnte nicht mehr in die Dusche gehen und die wenige Kraft, die sie noch hatte, wurde aufgezehrt durch die Wege zur Toilette und zurück auf ihre Couch im Büro, auf der sie die letzten beiden Wochen verbrachte. Wenn sie auf Toilette saß, dann konnte sie sich nicht mehr erheben, es ging einfach nicht. SIe klammerte sich an die Heizung, und zählte "eins", "zwei" und bei  "drei" nahm sie all ihre Kraft zusammen und versuchte, sich hochzuziehen. Zu Anfang klappte es noch, später dann nicht mehr. Minuten vergingen, Stunden. Ich hab natürlich versucht, ihr zu helfen, aber durch die Dusche kam ich nicht direkt an sie heran, ich konnte nicht den Arm um sie legen, sie nicht stützen. Einmal stellte ich einen Stuhl vor sie und es gelang ihr, sich daraufzusetzen. Aber die Richtung stimmte nicht, wenn sie aufstand würde sie wieder Richtung Toilette gehen und zum Durchziehen war es nicht breit genug. Andrea sprach nicht mehr viel, aber ich höre sie immer wieder sagen: "Ich muss auf Kloo!" - ja, mit zwei "o", das erste hoch- und das zweite tiefgetont. Und: "Was soll ich denn machen?" Ich konnte diese Frage nicht beantworten und in dieser Zeit habe ich viel geweint. Aber nur innerlich, Andrea war ja soooo schwach und ich musste für sie stark sein! Es war eine ganz schlimme Zeit für uns beide.

 

Das war auch die Zeit, in der Andrea dem Schluckreflex verlor. Sie versuchte immer wieder, Tee oder Wasser zu trinken. Die Flüssigkeit war dann im Mund, aber sie konnte es nicht schlucken, es ging einfach nicht. Sie musste es wieder ausspucken.

"Trink doch bitte was, Schatz! Nur ein klein bisschen! Trink für mich!"

Es ging nicht.

 

Ich habe mir früher immer eingeredet, dass ich keinen Menschen pflegen könnte. Und tatsächlich - das ist nichts für mich. Für medizinische Berufe und pflegerische Tätigkeiten muss man wohl geboren sein und ich bin das nicht. Und doch hat es mir nichts ausgemacht. Ja, ich habe es sogar gern gemacht, mit Liebe und Hingabe. Weil hier mein Mensch so schwach und hilflos vor mir lag. Mein Mensch brauchte mich und was ich gab, gab ich gern. Es machte nichts aus sauberzumachen, wenn beim Klogang etwas schiefging. Es machte nichts aus, sie zu stützen, sie auszuziehen, zu waschen und wieder anzuziehen. Es machte nichts aus, denn wir hatten beide die Hoffnung in uns, dass nach zwei Wochen alles wieder gut sein würde.


Am Freitag hatte ich auf der Arbeit plötzlich ein ganz schlímmes Gefühl. Ich habe alles stehen und liegenlassen und bin nachhause gefahren. Aber es schien alles okay zu sein und Andrea hat sich darüber gewundert, dass ich schon da war. Trotzdem blieb dieses Gefühl und ich rief beim Arzt an und vereinbarte einen Hausbesuch. Ich erzählte Andrea davon, aber sie reagierte entsetzt und sie forderte mich auf, den Hausbesuch wieder abzusagen. Ich habe mich geweigert. Dann griff sie selbst zum Hörer und sprach mit der Arztpraxis. Und bei diesem Gespräch war sie dermaßen präsent und voller Energie, dass ich mir plötzlich keine Sorgen mehr machte. Wer so spricht, dem kann es nicht wirklich schlecht gehen.

 

In der Nacht wachte ich auf und musste auf Klo, es war wohl so gegen 2:00 Uhr. Aber da saß Andrea. Und Andrea konnte nicht aufstehen, also wartete ich. Als es wirklich ganz dringend wurde, flehte ich sie an, sie möge es bitte doch nun nochmal mit dem Erheben versuchen. Andrea versuchte es und scheiterte. Ich wusste mir nicht anders zu helfen und in meiner Not ging ich in den Keller und pinkelte in das Abflussloch im Waschmaschinenraum. Das hat ganz gut funktioniert, aber ich fühlte mich dabei unendlich gedemütigt und erniedrigt. Was würde Anne sagen, würde sie es sehen? Ich spürte mit einmal einen unbändigen Zorn in mir, einen Hass - Hass auf diese verfluchte Scheißkrankheit! Als ich wieder hochkam lag Andrea auf der Couch. Sie hatte es geschafft, endlich! Ich deckte sie zu, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und legte mich wieder ins Bett.

 

Am nächsten Morgen war Andrea verwirrt. Sie sprach Dinge, die sie oft gesagt hatte, aber es war ohne Zusammenhang. Und sie konnte sich nun so gut wie gar nicht mehr bewegen. Ich geriet in eine Panik und war komplett neben der Spur. Von Andreas Telefon im Büro habe ich den Notarzt gerufen. Dabei ist das Gespräch unterbrochen worden. Es klingelte sofort das Telefon, vermutlich der Notarzt. Aber der Anrufbeantworter ging immmer sofort ran und legte sofort wieder auf. Es klingelte mehrfach und ich hatte keine Chance, das Gespräch entgegenzunehmen und in meinem Zustand war ich nicht mal ansatzweise in der Lage herauszufinden, wie der Anrufbeantworter funktionierte. In diesem Moment war ich dem Wahnsinn nahe und ich konnte kaum noch klar denken. Meine Welt war im Begriff, in sich zusammenzubrechen und ich stand hilflos daneben. Ich schaffte es dann aber, den Notarzt nochmal anzurufen - diesmal mit meinem Handy. Ich schaffte es dann auch noch einen Hilferuf an Florian abzusetzen, war aber selbst nicht mehr in der Lage irgendetwas zu tun außer einfach bei Andrea zu sein.

 

Knapp zwei Stunden später kam eine Notärztin aus Grünberg. Sie diagnostizierte "akute Dehydrierung" und wies Andrea ins Marburger Krankenhaus. Ich packte in der Zwischenzeit einen kleinen Reisekoffer mit den nötigsten Dinge, auch Andreas Brille war darin. Etwa zeitgleich kamen dann Flo und der Krankenwagen. Als Andrea dann draußen war sahen wir, dass ihre Haut gelb war, drinnen war uns das gar nicht aufgefallen.

Der Tod

Ich fuhr im Krankenwagen mit und Flo folgte, wir trafen uns dann im Warteraum. Er war mir in diesem Moment eine große Stütze. Vorher kam Andrea in ein Bett und wurde versorgt. Sie bekam Infusionen und wurde gewaschen. Ich wusste nicht, wie lange Andrea im Krankenhaus bleiben würde und um Energie zu sparen, machte ich ihr Handy aus, was eine sehr dumme Idee war. Denn sie hatte es später oft in der Hand, sie konnte aber nichts damit anfangen, weil es ja aus war. Ich wollte es dann wieder anschalten, aber sie wollte es nicht aus der Hand geben. Sehr viel später habe ich gemerkt, dass ihr Handy im Gegensatz zu meinem fast keinen Strom verbrauchte - mein Ausschalten war also falsch gewesen. In der Klinik gibt es zwar keinen Empfang, aber vielleicht hätte Andrea es doch noch geschafft, die eine oder andere Botschaft zu senden. Tut mir leid, Schatz!

 

Eine Ärztin sagte uns, dass die Nieren versagt hätten, aber um dem entgegenzuwirken, bekam Andrea bereits Infusionen und das Nierenproblem schien sich langsam zu bessern. Mit der Leber stimmte aber auch etwas nicht, daher auch die gelbe Hautfarbe. Später kam dann noch Lisa zu uns. Andrea war zu diesem Zeitpunkt schon auf der Intensivstation. Überall waren Apparate und Schläuche.

Wir blieben bei Andrea solange es uns möglich war.

 

Die Ärzte sagten uns, dass das eigentliche Problem ein Tumor wäre, der sich um die Ader gelegt hatte, welche die Leber mit Sauerstoff versorgte. Dadurch wurde ihr Körper langsam vergiftet, daher auch Andreas Verwirrung, und man meinte zu uns, dass diese Schädigung irreversibel sein würde.

Dennoch würden sie in großer Runde darüber diskutieren, ob ein Eingriff noch möglich sein könnte und es gab auch die Option einer gezielten Bestrahlung. Man machte uns aber keine großen Hoffnungen.

Auch am Sonntag blieben wir alle so lange bei Andrea wie es unsere Kräfte gestatteten.

 

Am Montag rief mich das Krankenhaus an und teilte mir mit, dass keine Behandlung mehr möglich sei und fragte nach meiner Zustimmung zur Verlegung auf die Palliativstation, dort habe sie es heller und freundlicher und ich stimmte dem zu. Andrea würde sterben - und das bald! Diese Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag. Ja, es stand schlecht um sie, aber sie muss doch deswegen nicht sterben! Sie ist doch im Krankenhaus! Ich konnte nicht mehr denken und nichts mehr fühlen und ohne Flo und Lisa wäre ich wohl kollabiert.

 

Als wir ins Krankenhaus kamen wurde Andrea gerade auf die Palliativstation verlegt. Als wir dort ankamen spürten wir, dass sie uns wahrnahm. SIe schien nur darauf gewartet zu haben, dass wir kamen, denn als sie unsere Anwesenheit spürte wurde sie nochmals schwächer und schwächer. Wir redeten mit ihr und trösteten sie. Lisa und Flo hielten ihre Hände und ich streichelte ihr den Kopf so wie sie es immer geliebt hat.

 

"Hab keine Angst, mein Schatz, hab keine Angst! Ich bin bei dir, ich pass auf dich auf." Ich hab es wohl wieder und wieder gesagt und es wurde fast zu einer Trance. Und auch Flo sprach sanft und liebevoll zu ihr.

Sie schien ein klein wenig zu lächeln. Dann hörte ihr Atem auf und meine Welt wurde schwarz. Dann atmete sie wieder und dann wieder nicht. Sie wollte nicht sterben, sie hat bis zum Schluss gekämpft. Dann gab es noch einen letzten Atemzug und dann war da nichts mehr.

Diesen letzten Moment trage ich in mir und ich erlebe ihn wieder und wieder.

 

Als Andrea tot war, sah sie so friedlich aus! Es schien fast als würde sie ganz leise in sich hineinlächeln. Am Ende des Weges angekommen, keine Chemo mehr und keine Bestrahlung, kein Krebs. Du hast es geschafft, mein Schatz, Du hast es geschafft.

 

Andrea ist gestorben und dabei ist ein Teil meiner Seele mit ihr gegangen. Aber das war kein sauberer chirurgischer Schnitt - nein, es hat meine Seele regelrecht zerrissen, es war ein Schmerz, der an Brutalität nicht zu überbieten ist.

Aber der Teil in mir, der uns miteinander verbunden hat, der ist noch da. Ich habe Andrea gebeten dort, wo sie nun ist, auf mich zu warten und ich bin mir gewiss, dass sie es tun wird. Wir werden wieder vereint sein und die Ewigkeit miteinander verbringen.

 

Anschließend waren Flo und ich auf einem Balkon und haben eine Zigarette geraucht, ich glaube es war die 6. Etage. Ganz urplötzlich hatte ich den unbändigen Impuls zu springen. Ich wollte unbedingt zu Andrea! Sofort! Aber dann spürte ich Flos Anwesenheit und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nicht will, dass dieser junge Mann an einem Tag gleich zwei Menschen verliert.

Flo hat mir in diesem Moment das Leben gerettet. Dieser Umstand und die Tatsache, dass wir das intimste und schlimmstmögliche gemeinsam erleben mussten hat uns zusammengeschweißt. Flo ist für mich nicht mehr nur Andreas Sohn. Nein, er ist nun auch zu meinem Sohn geworden.

 

Dann kam Andreas Mutter und schließlich auch Peter, ihr erster Ehemann und beide nahmen Abschied von Andrea. Ein Kind zu verlieren muss das Schlimmste sein, das einem Menschen überhaupt widerfahren kann.

 

Drei Tage nach Andreas Tod, an ihrem Geburtstag und knapp zwei Wochen nach der letzten Bestrahlung, erreichte mich ein Brief des Marburger Krankenhauses, er war an Andrea adressiert. Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, in einem schlechten Film zu sein - das Krankenhaus, in dem sie starb, schrieb ihr einen Brief! Wie krass!

Der Brief enthielt den Befund und eine Art Prognose und war wohl eigentlich an den behandelnden Hausarzt gerichtet. Ich verstand den Inhalt nicht und die Frage, die mich in diesem Moment antrieb, lautete: Wäre Andrea noch am Leben, wenn dieser Brief nicht mit so großer Verzögerung gesendet worden wäre? Für den Fall, dass diese Frage mit "ja" beantwortet werden würde, sah ich mich im Geiste schon automatische Waffen kaufen.

Ich wandte mich an Frau Dr. Sucke und gab ihr den Brief zu lesen. Sie las ihn sehr aufmerksam und beantwortete meine Frage: "Nein. Es gibt in dem Brief keinen Hinweis auf die Leber. Es hätte nichts geändert, wäre er früher eingetroffen."

Dann verschwanden die automatischen Waffen wieder.

Gott sei dank.